Was ist Evangelium

Was ist Evangelium

Worthülse „Evangelium“ – Und was drinnen steckt:

„Das Evangelium Gottes ist der lebendige Mensch“

Hinführung

Ich konnte es auf einmal nicht mehr hören. Und beim Lesen zog es mich zurück. Es handelte sich um das Wort „Evangelium“. Mein Unbehagen erregte die inflationäre Verwendung eines religiösen Begriffes, seine fast manische Aufblähung und die weithin fehlende zum Verstehen des Etiketts passende Inhaltsangabe – und diese für Hörer und Leser kurz und bündig und verständlich dargestellt!

Vorausgegangen war, dass Papst Franziskus – ein halbes Jahr im Amt – mit einem Aufsehen erregenden Rundschreiben aufgewartet hatte, das sich „Evangelii Gaudium“ („Freude des Evangeliums“) nannte und das schnell als Regierungsprogramm des Papstes dargestellt wurde. „Evangelii Gaudium“ konnte man dabei als wirklich wohltemperierte frohe und freche Botschaft angesichts der Trauer, des Gejammers und der Lähmung in der Kirche verstehen. Ärgerlich in diesem Zusammenhang war nur, dass sich viele, die sich anschließend zu Wort meldeten, inflationär und manisch an die Botschaft des Papstes dranhängten – und das schöne Wort „Evangelium“ meist beim leeren Klang bzw. bei ein wenig Blabla beließen. Der tschechische Theologe Tomás Halík hat einmal von einer „schamlosen Leichtigkeit“ gesprochen, wie manchen Leuten die großen Worte unseres Glaubens über die Lippen gleiten. Der Tiefe wird aus dem Weg gegangen. Und den wahren Inhalt kann sich ein normaler Mensch kaum vorstellen. Was lag da näher als das Bemühen, Farbe zu bekennen, Farbe in das Spiel zu bringen, den Begriff „Evangelium“ auszumalen, die Worthülse zu füllen, inhaltlich abzudecken und dabei den Inhalt für heute greifbar und begreifbar zu machen, so dass man sich eine realistische Vorstellung davon machen kann, was Zustimmung und Emotionalität, sprich: ein frohes Ja zum Christsein auslösen soll.

Die gute Botschaft Gottes ist der lebendige Mensch

Ich mache es mir jetzt ganz einfach. Einfach deshalb, weil mir gerade wieder der gottselige Kirchenvater Irenäus von Lyon mit einem Spruch über den Weg gelaufen ist, der mich seit langem sehr berührte und der meinem Denken sehr nahe steht. Es handelt sich um den Satz, der den Kirchenvater so berühmt gemacht hat: „Die Ehre Gottes ist der lebendige Mensch.“ Dieser Satz wird von vielen Kennern so verstanden, dass damit der Mensch – und gerade auch der Christ – gemeint ist, der voller Leben und voller Lust am Leben ist, der also in einem umfassenden Sinn lebendig ist. Ein vom Leben erfüllter Mensch ist die Ehre Gottes und die größte Würdigung Gottes, ein Mensch also, der nach dem Beispiel Jesu in Gottes lebendiger Schöpfung steht und dort Gottes Gutsein zur Sprache bringt bzw. all das, was Gott ausstrahlt, im Sinn Jesu aufgreift, vorantreibt und zur Vollendung bringt.

Vom berühmten Spruch des Kirchenvaters Irenäus ist dann kein weiter Weg zur besten Definition von „Evangelium“, die ich kenne: „Das Evangelium Gottes ist der lebendige Mensch.“ Was damit gemeint ist, versteht jeder. Ein Mensch voller Leben und voller Lust am Leben ist nicht nur die schönste Würdigung Gottes, er ist auch das beste Evangelium, die beste Botschaft und der beste Botschafter Gottes. Gemeint ist der an Gott und die Schöpfung gebundene, kernige, mutige, frohe, einfache, glaubwürdige, empfindsame, wohlwollende, langmütige, handlungsbereite Mensch, der sich an Jesus Christus als den Prototypen des lebendigen Menschen angeschlossen hat, und der eine Lebensart pflegt, die von Gott ausgeht, in Christus Gestalt geworden ist, in ihm beständig aktualisiert wird und durch ihn in die Welt einfließen soll. Dort leuchtet das auf, was Gott will, wo Spiritualität, Geistigkeit, Herzenswärme, Solidarität, Einsatzbereitschaft, Bescheidenheit und Wohlwollen allem gegenüber anzutreffen sind, wo solches Verhalten aus dem Leben Jesu geschöpft wird, wo man sich wie Jesus dem souveränen Gutsein Gottes hingibt. Evangelium ist also eine besondere Art menschlichen Verhaltens, ein bestimmter Bezugstyp zur Wirklichkeit, die uns umgibt. Diese gute Botschaft ist primär personal. Sie spielt sich im personalen Raum ab. Dies klingt zunächst recht theoretisch, theologisch präpariert, ungefüllt und ein bisschen seelenlos – aber bleiben Sie bitte neugierig! Und dran!

Die Kernbotschaft Gottes ist eine Person – Personal begann es.

Die gute Botschaft Gottes innerhalb des Urevangeliums der Schöpfung ist eine Person, in der„die ganze Fülle Gottes“ (Kol 1,19) wohnt. Das Topp-Evangelium ist eine greifbare geschichtliche Person, der lebendige Christus, in dem Gottes Art Gestalt geworden ist. Personal begann es. Und personal musste es weitergehen. Theologisch prägnant aber irgendwie – wie oben bereits erwähnt – recht abstrakt ausgedrückt: Die Botschaft Gottes hat personalen Charakter. Jesus Christus selber in Person ist die Botschaft und das Programm des Christentums. Die frohe Botschaft ist immer dieser Christus, der dem Vater die Ehre gibt, der den Vater würdigt in Wort und Tat, im Umgang mit den Menschen und mit seinem Geschick. „Im Zentrum des Christentums steht nicht eine Lehre, sondern eine Person – und aus der Begegnung mit ihr erwächst der Glaube“, so Bischof Rudolf Voderholzer. Diese Person ist das Maß, dieser Jesus ist der letztlich Ausschlaggebende, Entscheidende, Maßgebende, der, der „das Christentum zum Christentum macht“ (Hans Küng). Maß ist sein Verhalten, seine Nähe zu Gott, sein Gottvertrauen, sein Leben, sein Reden, sein Tun, sein Umgang mit seinem Geschick. Jesus ist – und das trifft auch den Punkt – das Reich Gottes in Person.

Hier tauchen nun aber eine Reihe von Problemen auf: Das Erste stellt sich so dar: Diesen Christus kann man sich denken, man kann über ihn reden, man kann über ihn lesen, man kann ihn nachspielen – aber entscheidend für eine Annäherung ist doch das direkte Erleben einer Person.

Das zweite Problem schließt sich hier an: Wie kann man in unserer Zeit von einer Person reden und sie in den Mittelpunkt stellen, die in der antiken Welt gelebt hat und deren Leben uns nach den Bedingungen der antiken Welt überliefert und gedeutet wurde? Und noch dazu: Wie kann man von einer Person als maßgebend reden, die so tragisch gestorben ist wie dieser Christus? Wie kann er in späteren Zeiten, wie kann er im Hier und Jetzt und unter den Bedingungen einer Wohlfühl-Zeit wieder „auferweckt“ werden und Maßstab sein für ein sinnvolles und gelingendes Leben? Und wie können dafür alte tiefe Bilder entschlüsselt und verständlich gefasst werden: Weg, Wahrheit, Leben, Licht, Brot, Salz, Wasser usw. sowie die vielen Zuschreibungen aus dem früheren religiösen Denken?

Und das dritte Problem ist nicht minder heikel: Es geht darum: Wer ist dieser Christus und wofür steht er? Welcher Christus muss für das Heute aktiviert werden? Von welchem Christus müssen Christen „aufgeladen“, „angesteckt“, inspiriert werden? Wie kann man ihn aus der individuellen Wahrnehmung seiner Anhänger und der subjektiven Inanspruchnahme durch die ersten Christen möglichst ursprünglich erkennen? Was ist seine „Tatsächlichkeit“? Wer ist dieser Jesus genau, der nach den schönen Worten eines Theologen unter der Sonne Gottes lebte und der andere da hinein zog? Was sind die Grundzüge seines Lebens, Denkens und Handelns? Was ist interessensbedingt gedeutet, ergänzt, was ist missverstanden worden? Und wo wurde dieser Jesus sogar für jesusfremdes Denken missbraucht? Nimmt das wahre Jesus-Gut in den biblischen Schriften nicht sogar eine Minderheitsposition ein? Wo ist das wahre Gold im Dunkel der Schrift versteckt? Wo ist es verschmolzen mit minderwertigen Substanzen? So dass manchmal von einem Jesus als dem Vorbild für die Erfahrung absoluter Liebe nur noch ein Schimmer übrig bleibt! Wer sondiert? Wer ist Hilfe? Da das Lehramt der Kirche alles in den heiligen Schriften zum Evangelium erklärt, bleibt als Kriterium nur der reflektierende Christ im Alltag, der weiß und spürt, was an Tragendem er aus dem Pool der biblischen Schriften holen kann und worauf er getrost verzichten darf. Werden also die guten Früchte ihrer Auswahl immer mehr Kriterium für die wahre Gestalt des ersten Evangelisten, des ersten Evangeliums? Die Frage lautet ganz pragmatisch: Welche Texte bringen gute Früchte hervor, welche nicht? Ich für mich habe mich auf einen Text besonders eingestellt, der davon spricht, dass Jesus einen Gott verkündet, der seine Sonne über allen Menschen aufgehen lässt, der allen gut ist. Ich favorisiere klar und ohne Abstriche einen Jesus, der sich dem souveränen Gutsein Gottes hingegeben hat und mich einlädt, das Gleiche zu tun.

Die Aktivierung des Urevangeliums – Personal geht es weiter

Ohne Umsetzung bleibt das Evangelium matt. Die Umsetzung hängt primär an Personen. Das Evangelium ist von Jesus angefangen eine personale Sache und wird und muss auch immer eine personale Sache bleiben. Der Christ ist das Evangelium Gottes. Er ist die jeweils neue Aktivierung dieses Jesus Christus für die jeweilige Zeit, die Präsentsetzung, die Präsentierung und die Repräsentierung dessen, der das Evangelium in Person war. Nur so ist dieser Christus heute zu ahnen und „rüberzubringen“. Eine Figur der Vergangenheit hat keine Durchschlagskraft, wenn sie nicht in Menschen der Gegenwart lebendig ist und lebendig bleibt. Denn der Mensch, der vorbildhafte Mitmensch ist immer noch das erste Modell, an das sich Mitmenschen anschließen. Hehre alte Geschichten, tolle Ideen, großartige Programme gelten in der Regel nur so viel, als es Personen gibt, die sie verkörpern. Der unendlich ferne Gott, der zeitlich ferne Jesus und seine Lebensart können letztlich nur von glaubwürdigen örtlich und zeitlich nahen Menschen erschlossen werden. Nur diese sind dazu in der Lage. So ist der Christ heute wie der „Erste Christ“ immer noch der Heilsort und die Heilszeit Nummer eins vor allen anderen Orten und Zeiten, das Heilsprogramm Nummer eins vor allen anderen Programmen. Über Erlebnisse, Erfahrungen und Begegnungen leuchtet die Botschaft und leuchtet ein. Wie denn sonst? Wer Christus anziehen will, muss gewöhnlich vorher von einem glaubwürdigen Menschen angezogen worden sein. Darum steht ja auch nach der Erklärung der deutschen Synode das personale Angebot eindeutig vor dem Sachangebot.                                                                                   

In meiner Biographie war es ähnlich. Einfache gläubige Menschen und weltoffene Priester waren für mich eine erfreuliche Botschaft und Modell und Vorbild für meinen bewussten Anschluss an diesen Jesus Christus. Sie waren echte Aktivisten und Motoren, eine fortgesetzte Inkarnation: vielfach fröhlich, attraktiv, einfach, unternehmerisch, Schwierigkeiten meisternd, Leid ertragend, eindrucksvoll kernig, befreiend, heilend, nachhaltig wirkend – und nicht unpersönlich, kalt und seelenlos. Wem war es schon geschenkt, einem Joseph Cardijn, dem begnadeten Gründer der CAJ und einem Dom Helder Camara, dem brasilianischen Bischof der Armen persönlich zu begegnen, um nur zwei Namen von Menschen zu nennen, die für mich großes Evangelium waren.                                                                                                                         

Christ werden und sich als Christ auf den Füßen zu halten ist also immer noch zuerst ein Geschehen von Person zu Person. Glaubwürdige Christen sind wahre Heilsorte. Neben den Begabungen einzelner Christen ragen hier zwei Personengruppen besonders hervor, die bevorzugt als Heilsorte gefragt sind. Niemand soll sich wundern, wenn ich zuerst den Heilsort Ehe, also die Eheleute anspreche. Dieser Ort hat in der Lehre der Kirche sogar sakramentalen Charakter. Der Mann ist gedacht als Heilsort für die Frau, und die Frau als Heilsort für den Mann. Und weitergeführt: die Eltern für die Kinder und die Kinder für die in die Jahre gekommenen Eltern. Dann verweise ich auf das personale Angebot, auf die unzähligen Dienerinnen und Diener der Kirche als Heilsorte für Einzelne, Gruppen, Pfarreien und die ganze Kirche. Von so vielen Mitarbeitern ist das Gutsein Gottes ablesbar. Und so viele sind dran, das Gutsein Gottes in jedem Menschen zu erspüren, zu entdecken, anzusprechen und abzurufen.                                                                                       

Botschafter auf vielen Ebenen

Der Botschafter ist die Botschaft. Es gibt keine andere, keine bessere, keine zutreffendere Definition als diese: Wie der „Erste Christ“ sind die Christen, die nach ihm kommen, die Botschaft. Personen sind das wahre Evangelium. So ist Evangelium gedacht. Diese Feststellung ist theologisch sauber. Die Lebensart und Lebenskunst der Christen sind nun auf verschiedenen Ebenen gefragt. Ich greife vier Felder heraus.                                                  

Die Kunst des guten Wortes – Die Welt braucht gute Worte

Die Botschaft des Christentums liegt uns auch im Wort vor, sie ist auch Wort, gesprochenes Wort, bedachtes Wort, geschriebenes Wort, erklärtes Wort, Wort, das ergreifen, bewegen, zur Annahme führen und Beziehung stiften soll. Der Christ, seine Lebenskunst ist dort gefragt, wo Menschen ein gutes Wort brauchen. Und da geht es zunächst um das alltägliche gute Wort. Papst Franziskus hat uns dazu eine ungewöhnlich gewöhnliche Steilvorlage gegeben. Die Botschaft der einfachen Freundlichkeiten „buon giorno, „buona sera“ oder „buon appetito“ haben sofort auch alle verstanden, die kein Italienisch und/oder keine große Theologie verstehen. Und „hier ist Franziskus am Apparat“ oder „schlafen Sie gut“ haben Menschen aufhorchen lassen. So einfach kann Evangelium sein. Christliche Lebensschule ist natürlich mehr. Sie muss fachlich ausgerichtet und verantwortet sein, wenn es um das pastorale, um das therapeutische, um das aufmunternde, tröstende, heilende, lossprechende Wort geht, das die im Blick hat, auf denen der Blick Jesu ruhte. Hier braucht es das klärende und aufklärende Wort der Theologie natürlich nicht als Wort, das von oben erschlägt und jede Hoffnung auf Erreichbarkeit nimmt – auch nicht in der „Sprache Kanaans“ dargeboten, sondern als Wort, das verstanden wird, das abholt und auffängt und auffordert. In „Evangelii Gaudium“ hat der Papst den Versuch gestartet, frisch und frech und allgemein verständlich in die Trauer, in das Gejammer, in die Lähmung und Ratlosigkeit der Kirche hinein zu sprechen. Schließlich ist es große theologische und pastorale Kunst, das „Wort Gottes“ in der Bibel, ein „Wort“, geprägt vom Verstehen, vom Denken und den Interessen der frühchristlichen Autoren und der jungen Kirche in einer Art anzubieten, die dem Wort „Evangelium“ Ehre macht. Nicht gerade einfach – das klang schon oben an – ist nämlich der Zugang zu den echten, wahren und froh machenden Jesusworten. Wie findet man seine wahren Worte? Für welche ist er der Urheber? Welche Worte liegen in seiner Logik? Welche sind in seinem Sinn gestaltet? Wo liegen Verzerrungen und Verfälschungen vor? Wofür musste Jesus herhalten? Was tut man, wenn eine gute Nachricht gar nicht so gut klingt? Wenn die Botschaft nicht leuchtet? Wenn man eher den Kopf einzieht als dass man das Haupt erhebt? Was ist wirklich gutes Wort, heilendes Wort, Wort in Dur und nicht in Moll? Viele Fragen tun sich dabei auf! Flurbereinigung ist angesagt, auch was das Buch betrifft, das sich Evangelium nennt – und doch voller Hiobs- und Drohbotschaften steckt. Wie kann man heute verantwortungsvoll mit Worten umgehen, die man nicht mehr verantworten kann? Hier ist jeder Christ gefragt. Sich um Antworten herumzudrücken ist das Schlimmste.

Und schließlich geht es hier auch noch um die Rettung des Wortes, des Begriffes „Evangelium“. Oben habe ich bereits Tomás Halík und seinen Ausdruck „schamlose Leichtigkeit“ zitiert, mit der, wie Halík meint, mit religiösen Begriffen umgegangen wird. Ärgerlich ist, wie und wo das Wort Evangelium als Floskel erscheint, wenn es etwa plakativ durch die Lande tönt: Wir Christen haben eine frohe Botschaft. Es nervt, wenn phrasenhaft, inhaltsleer und inflationär von einem Evangelium gesprochen wird, das die Christen verwalten. Da soll eine neue Etappe der Evangelisierung stattfinden. Da soll die Botschaft des Evangeliums in seiner ursprünglichen Bedeutung auferstehen. Da soll den Christen ihre Zustimmung zum Evangelium bewusster werden. Da soll das Evangelium zu allen gelangen. Da sollen neue Wege zur Erschließung des Evangeliums gegangen werden. Und „Evangelii Gaudium“ soll ein Denkanstoß zur Verkündigung des Evangeliums werden. Da soll das ganze Volk Träger der Verkündigung des Evangeliums werden. Da wird vom Herrn des Evangeliums gesprochen. Da wird eine Treue zum Evangelium beschworen. Da gibt es eine soziale Dimension des Evangeliums. Und die ursprüngliche Frische des Evangeliums soll wieder hergestellt werden. Résumé: Vor der inhaltlichen Skizzierung steht oft so viel Blabla, dass einem die Lust an der Nachfrage vergeht. Aber kurz und bündig kann oft niemand sagen, was mit dem Balken „Evangelium“ gemeint ist.

Und wenn dann doch der Versuch gemacht wird, den Sachverhalt zu erklären, dann versteht der heutige Durchschnittsmensch kaum mehr, was da in den Raum geworfen wird bzw. was ihm ins Haus steht. Ich zitiere aus einem Artikel des Regensburger Bischofs Rudolf Voderholzer, der in einem Aufsatz einen ersten Einblick in „Evangelii Gaudium“ geben will: Er schreibt: „Die Botschaft Jesu und die von ihm in seiner Verkündigung wie auch in seinem Tod und seiner Auferstehung erwiesene Liebe Gottes zum Menschen“ das ist Evangelium und diese Botschaft „begründet eine tiefe Freude, die auch von den vielfältigen Bedrängnissen des Lebens nicht umzubringen ist“. Andere erklären Evangelium so: „Die Kirche fasst das Kommen, Wirken, Leiden und Auferstehen Jesu als erlösendes Ereignis, durch das der verheißene Bund verwirklicht wurde, in das Wort Evangelium“. Oder: „Das Evangelium Gottes ist das Angebot des Erbarmens Gottes an alle Menschen aufgrund des sühnenden Leidens Jesu“. Oder: „Der Gottessohn Jesus Christus ist für unsere Schuld und Sünden, für unseren inneren Widerspruch zu Gott am Kreuz gestorben. Er hat sich freiwillig in diesen Tod begeben. Und Gott hat dieses Opfer angenommen, indem er Jesus von den Toten auferweckt hat. Durch ihn sind wir erlöst und können als Erlöste leben“.

Solche und ähnliche Antworten führen in der Konsequenz zu der Frage: Wie können derartige Sätze eine tiefe Freude begründen? Solche Sätze laufen doch heute ins Leere. Sie reißen weder mit noch erfreuen sie. Ganz und gar problematisch aber wird es, wenn solches Gedankengut auch noch als dogmatisch unantastbar gehandelt wird? Man kann daraus keinen Staat mehr machen. Man müsste – so könnte man meinen – doch die Kernbotschaft des Christentums mit einfachen Worten und in wenigen Sätzen beschreiben können.

Längst haben sich heute Seelsorger unabgesprochen aber aus einem authentischen Empfinden heraus darauf verständigt, was man für die Verkündigung besser nicht aufgreift. Für einen Klinikseelsorger genügten als Verkündigungsgrundlage fünf/sechs biblische Themen: Das Hauptgebot der Liebe, Teile der Bergpredigt, die Gleichnisse vom barmherzigen Samariter, vom barmherzigen Vater, vom guten Hirten und die Geschichte von der Begegnung Jesu mit dem Zöllner Zachäus.

Die Kunst der guten Tat – Der Glaube ohne Werke ist tot

Noch einmal: Das wahre Evangelium ist eine Person. Als Evangelium kann man aber auch das Tun Jesu bezeichnen – und genauso das Tun lebendiger Christenmenschen. Jesus handelt wie der barmherzige Samariter, wie der gute Vater, wie ein guter Hirte. Er handelt mitten unter den Menschen, ganz nahe an den Menschen, nahe bei den Armen, nahe auch bei den „Bösen“, „nahe an der Hölle“, wie ich es irgendwo treffend gelesen habe.

Im Normalfall geht es um das einfache und oft glanzlose Tun des Alltags, das behände Zugreifen – gerne, geschwind und genau -, der Blick auf den Nächsten und der Blick über den Zaun. Dann gibt es die fachliche Tat, die helfenden Berufe, das caritative und soziale Tun. Caritas und Diakonie und die sonstigen kirchlichen Dienste der Nächstenliebe sind anerkanntermaßen eine Erfolgstory sondergleichen. Da muss man schon böswillig sein, um dies zu verneinen. Sie sind eine Werbung für praktiziertes Evangelium. Wir Christen sollen deshalb auch keine Angst vor Kritik haben, wenn Fehler passieren. Nur wer nichts tut, macht auch keine Fehler.

Die Kunst des Miteinanders – Die gute Botschaft hat eine soziale Komponente

Evangelium multipliziert sich, wo es nicht auf Single-Art, im sozialen Entzug oder Aus, sondern im Miteinander gelebt wird. Christsein als Evangelium hat eine soziale Komponente. Sozialer Entzug ist keine Werbung für Christus, ist kein Evangelium. Wir leben in einer Welt sozialer Verbundenheiten und Verbindlichkeiten. Unverbindliche Autonomie kommt schnell an ihre Grenzen. Geglückte Gemeinsamkeit, wenn wir aufeinander zugehen, miteinander gut umgehen, einander tragen und ertragen und miteinander feiern, ist ein eigenes Evangelium. Zentral sind hier das gelungene Miteinander der Ehepartner, der Dienst der Eltern an ihren Kindern, der Dienst der erwachsenen Kinder an ihren alten Eltern – und der Dienst aller, die sich in Gesellschaft, Staat und Kirche um Verbundenheit und Gemeinschaft sorgen. Festlicher Höhepunkt dieses Miteinander ist immer wieder die Feier der Eucharistie.

Die gute Botschaft als geglückte Teilnahme am Geschick Jesu

Christsein als Evangelium vollzieht und bewährt sich in einer Welt, die in der Sprache des Christentums unter dem Zeichen des Kreuzes steht, in der es also Schicksale und Herausforderungen gibt, die musterhaft gelebt werden wollen. Das Leben hat seine dunklen Seiten, es gibt Krisen und Katastrophen, Beschwernisse, Krankheiten, Altern, Tod. Es gibt die Tragik des Lebens, Beschränkungen, Behinderungen, persönliche Niederlagen, unausweichliche soziale Verbindlichkeiten, unvermeidliches Scheitern, Verlust der Sicherheiten, Ausweglosigkeiten, Alleingelassenwerden, Einsamkeit, es gibt soziale Ablehnung, Mobbing, Ignoriertwerden, Feindschaft, Ächtung und Verachtung (am schlimmsten, wenn es sich um bisherige Freunde und Vertraute handelt), es gibt Irrationales und Absurditäten, es gibt unglaubliche Schicksale, die Erfahrung des Bösen, das Alleinsein mit seiner Schuld – und es gibt das schwere Kreuz des ungenügenden Miteinanders in der Kirche – und in der Folge die Gefahr von Abwendung, Resignation und Verzweiflung.

Der lebendige Christ steht in dieser Wirklichkeit, er verschließt sich nicht, er grenzt nichts aus, er weicht nicht aus, er resigniert nicht. Er packt sein Schicksal kreativ an, er versucht es zu meistern, er kämpft – und wenn es sein muss, nimmt er das Unvermeidliche an, er nimmt sein Kreuz auf sich und versucht selbstlos, gewaltlos und liebend durchzuhalten. Tomás Halík hat einmal geschrieben: „Für einen der wertvollsten Beiträge des Christentums halte ich die Ermunterung zu diesem Verhalten gegenüber dem Leben: Krisen nicht auszuweichen, das Kreuz auf sich zu nehmen. Das Christentum ist…ein Weg in die Nachfolge dessen, welcher der Finsternis von Gethsemane, dem Karfreitag und dem ‚Abstieg in die Hölle’ des Karsamstags nicht ausgewichen ist.“ Das „Evangelium vom Kreuz“ – hier muss man wirklich aufpassen – meint aber keine unnatürliche Leidensseligkeit, also kein Gefühl, das sich im Leid gefällt. Es heißt vielmehr Abschied von einem Wunsch- und Traumsystem, in das wir hineingeschlittert sind, wo Leben reibungslos ablaufen, wo Leben sich als breite und bequeme Straße darstellen muss.

Wichtig wird hier, dass der leidende Christ begleitet wird von den Erfahrungen und Bewältigungsstrategien anderer Mitleidender und deren „österlichen“ Erfahrungen, von fachlichen Helfern und Seelsorgern, von der Tröstungskraft des Weges Jesu (die keine Vertröstung ist), und von einem Gott, dessen Name – wie es die deutsche Synode vor Jahren ausdrückte, „tief eingegraben“ ist „in die Hoffnungs- und Leidensgeschichte der Menschheit“. „In ihr“, sagt die Synode, „begegnet uns dieser Name aufleuchtend und verdunkelt, verehrt und verneint, missbraucht, geschändet und doch unvergessen.“                                                                                                                                            

Frohe Botschaft und Institution – Die strukturelle Repräsentation des Evangeliums

Wie jede Gruppierung hat sich auch die Gemeinschaft der Christen eine Struktur gegeben. Jede Gruppe braucht eine Verfasstheit. Alles andere ist naiv. Naiv ist das Gerede, Jesus wollte das Reich Gottes – und die Institution kam. Dienstämter gehören zu den sozialen Notwendigkeiten und sind soziale Produkte. Es gibt zu ihnen keine Alternativen. Das Liebesprinzip ist kein Leitungselement. Aber es gibt Alternativen im Verständnis von Amt und Dienst und alternative Handhabungs- und Umgangsformen. Die strukturelle Repräsentation des Evangeliums in der Kirche ist notwendig, sie hat ihre großen Vorteile, sie muss aber auch mit allen möglichen Spannungen und Belastungen leben.

Da gibt es also das Volk Gottes, ein buntes Volk, diese Gruppe der Jesus-Anhänger. Und dann gibt es die Hirten, eben weil es dieses Volk als Grundgegebenheit gibt. Für dieses Volk sind die strukturellen Repräsentanten da – und nicht umgekehrt. Deshalb muss man in erster Linie auf dieses Volk hören, auf seine Einsichten, auf die Art, wie Christen das Evangelium in den unterschiedlichsten Lebensräumen, Lebenszeiten, Geschichtszeiten, Schicksalsbindungen, Schuldzusammenhängen, Berufen gekonnt umsetzen. Und man muss auf die Nöte, Verlorenheiten, Schicksale und Verwirrungen hören, die im Volk Gottes da sind. Und es braucht Sensibilität für das, was im Volk Gottes gedacht wird. Es ist ein Ärgernis, wie oft das Subjekt der Kirche, das Volk Gottes in seinen Leistungen und Bedürfnissen übersehen und hinauskomplimentiert wird. Kirchliche Dienste haben das Volk Gottes zu beachten und zu fördern, sie müssen Antworten auf Fragen geben, die gestellt werden und dürfen mit ihren hehren Forderungen einen Teil des Volkes Gottes nicht permanent überfordern.

Dabei gäbe es für die Diener des Volkes Gottes viele qualifizierende Elemente. Ihr von Jesus gesetztes Wertesystem sagt doch, dass es nur einen Meister gibt und dass alle anderen Brüder sind. Und oft steht über ihrem Dienstantritt das Wort: Wir sind nicht Herren eueres Glaubens, sondern Diener euerer Freude. Die strukturelle Repräsentanz ist somit immer der „List“ bzw. „Hinterlist“ dieser Schriftworte ausgesetzt.

Die öffentliche Kontrolle

Wer sich vollmundig als Evangelium präsentiert oder etwas als gute Botschaft hinstellt, unterliegt natürlich der öffentlichen Kontrolle. Ich meine damit nicht die böse, die pauschale Verwerfung der Christen. Ich meine auch nicht die Kritik von Einzelnen und Gruppen, die nichts tun und deshalb auch keine Fehler machen. Ich denke an die gute öffentliche Kontrolle. Sie macht die Christen vorsichtiger und demütiger, sie zeigt allgemein, dass Christen auch nur Menschen sind. Und die gute Kontrolle bekehrt immer auch die Kirche und die Christen.

Schlusswort

Ich bin Christ. Ich gehöre zur Gruppe der Christen. Ich leide – aber jenseits jeder Leidensmystik – an manchen Fehlern, persönlichen, gruppenbezogenen und natürlich auch kirchenbezogenen. Doch manchmal sind wir als Gruppe auch besser als andere Gruppen! Und manche von uns Christen sind sehr gut, sind Vorbild, sind Evangelium, gute Botschaft für die Welt. Darum meine ich: Christen sollen sich nicht ducken und unter ihrem Wert verkaufen. Sie dürfen aber auch nicht unter ihrem Wert gehandelt und verkauft werden.

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