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Ich bin auf den Grund gegangen – aber nicht zugrunde

Ein Beitrag zur Zölibatsdebatte in der katholischen Kirche

Ein Kommentar

Mancher mit einer ähnlichen Biographie hätte giftiger und aggressiver geschrieben. Ein anderer wäre aus einer tiefen Enttäuschung und Trauer gar nicht mehr aufgewacht oder herausgetreten. Lorenz Zellner, ein früherer Jugendpfarrer der Diözese Regensburg, hat sich ruhig, unaufgeregt, aber nicht unbetroffen, manchmal auch mit Humor und gesunder Distanz an eine Materie heran- und durch eine Materie hindurch gearbeitet, die bei aller persönlichen Betroffenheit ganz zentral den Fortbestand der Seelsorge in einer qualifizierten und echt katholischen Form in den Blick nimmt und im Blick behält. Seinen Beitrag zur Zölibatsdebatte in der katholischen Kirche und seine Bewertung der Sinnfigur Zölibat bettet er, der 1990 sein Amt aufgab, ein in die Darstellung einer lebendigen Schöpfungs- und Inkarnationstheologie, in ein Zugehen und Hören auf die anthropologischen Wissenschaften und in das stets neue Nachdenken über die Bedingungen und Erfordernisse einer „Kirche in der Welt von heute“.

Hauptteil I des Buches befasst sich vorwiegend mit wachstumsfördernden und heilsamen religiösen Ideen aus dem großen Ideenpool der katholischen Kirche, mit gesunder schöpfungs- und offenbarungskonformer Theologie und salutogener (heilschaffender) und protektiver (Schutz und Hilfe gebender) Verkündigung. Résumé: Die Kirche braucht sich mit ihrem Ideengut, noch besser mit ihren Kernideen, wirklich nicht verstecken! Sie hat frohe Botschaften und gute Nachrichten!

Hauptteil II geht das Thema pathogene (krankmachende), gefährliche und riskante Ideen in Theologie und Verkündigung an. Gemeint sind Ideen, die von der zentralen Botschaft des Christentums, von seinem „Kerngeschäft“ her nicht mehr zu rechtfertigen sind. Zellner stellt die riskante Idee des Zölibates, dessen Behandlung obrigkeitsbedingt immer noch auf Eis liegt, dessen Abschaffung aber vom Gros der Gläubigen akzeptiert wird, in eine Reihe mit anderen gefährlichen Ideen und Lebensleitlinien wie Schöpfungspessimismus, Auserwählungsdenken, Opferhaltung und falsche Askese. Er hält diese Idee des Zölibates, diese „Leitkultur“ für Priester für gefährlich und riskant, riskant für die persönlich Betroffenen, riskant für die genügend gute Ausstattung der Kirche mit passenden Seelsorgern, riskant für die Autorität von Papst und Bischöfen und riskant für die öffentliche Akzeptanz der Kirche und ihrer Theologie. Er argumentiert kernig theologisch, bringt kompetente Außenansichten, verweist auf die in jüngster Zeit erstarkte Selbstreflexion des Klerus und stellt sich dann ganz persönlich in die Debatte und zur Debatte.

Überzeugend stellt er zunächst der künstlichen Sinnfigur Zölibat die aus der Schöpfung sich ergebende natürliche Seins- und Sinnfigur Paarbeziehung gegenüber. Er macht deutlich, dass mit der Verpflichtung zum Zölibat eine zentrale Seinsfigur der Schöpfung, eine wesentliche Sinnsphäre „gekappt“ wurde. In der von Gott geschaffenen Zuordnung von Mann und Frau sei klipp und klar eine geltende und nicht der Beliebigkeit preisgegebene Sinnsphäre gesetzt worden. Mit der Zölibatsverpflichtung sei – bildlich gesprochen – wieder „ein Zustand vor Eva“ eingeführt worden. Wohltuend schafft der Autor klare Grenzen und Begründungen und entzieht so immer wieder sekundären Vorlieben, Verliebtheiten und Pseudoargumentationen den Boden. Er breitet eine solche Fülle von Material aus, das man sich selber anschauen und in das man sich hineinknien muss, was letztlich dazu führt, dass man sich als Leser diesem Stoff kaum mehr entziehen, dass man Stellung nehmen muss.

Wohltuend ist auch, wie Zellner sich selber zurücknimmt und sich zu seiner Kirche bekennt. Trotz seiner Biographie und seines kirchlichen Sonderstatus betont er, dass er mit der Kirche und ihrer Kernbotschaft keine Probleme habe, dass er aus der Theologie nach wie vor sein zentrales und sein Leben bestimmendes Gedankengut hole, dass er im Raum der Kirche die überzeugendsten Vorbilder für sein Leben und eine sinnvolle Lebensgestaltung gefunden habe und dass seine Suche nach Gleichgesinnten und Praktikern des Glaubens dort am erfolgreichsten war. Er moniert in Abwandlung und Erweiterung eines Wortes von Bischof Joachim Wanke eine Einstellung, sich als Christ in den Kopf, ins Herz, in den Bauch und auf Hände und Füße schauen zu lassen, um zu zeigen, welchen Gott man in sich leben und agieren lässt. Theologische Schieflagen und Menschlichkeiten bzw. Versagen in der Kirche störten ihn immer weniger. Er stelle bei sich eine gute Grundgestalt des Glaubens fest, nämlich Jesus als einer, der passt, und der auch Gott als einen darstellt, der passt. Die bestehende Kirche scheint für Zellner trotz vieler Mängel, Engführungen und Ausgrenzungen und teilweise rasanter Talfahrt immer noch alternativlos zu sein.

Am Schluss schlägt der Autor einen Bogen zum Programm und Auftreten von Papst Franziskus, zu dessen „Heraus“ aus den Selbstfesselungen der Kirche und „Hinein“ in die Welt der Menschen, besonders zu den „Armen und Bedrängten aller Art“. Zellner weiß aus seiner jahrelangen Tätigkeit als Seelsorger und systemischer Berater für Einzelne, Paare und Familien, dass die Kirche gerade in dieses Feld hinein muss, in ein „unnennbar christliches Elend“, wie es der Familientherapeut des Bayerischen Rundfunks, Rolf Grigat, einst formuliert hat. Das Programm des neuen Papstes mit seinem „Heraus“ und „Hinein“ könnte sich konsequenter- und schlüssigerweise auch auf Ehen und Familien erstrecken und in letzter Konsequenz zu einem Ergebnis führen, das der Autor so beschreibt: „Das Licht der Schöpfungs- und Christusbotschaft könnte über eine einfarbige und zölibatär geschlossene Gruppe hinaus durch eine mehrfarbige, kernige, frohe, kluge, offene und aktive „Mann“-schaft – noch besser, durch ein buntes ebenso geartetes Frauen- und Männer-Team – in einer nach Licht rufenden Welt zu neuem Glanz kommen“. Nichts könnte der Kirche besser tun als eine solche Entwicklung.

Alles in allem ist auch dieses neue Buch ebenso wie Zellner´s erstes Buch „Gottestherapie“ mehr als eine pastoraltheologische Studie, es ist ein persönliches Glaubensbuch für unsere Zeit, ein Buch, das vor allem auch zeigt, dass Glauben und Denken, dass Leben aus dem Evangelium und Leben aus der Zeit keine Gegensätze sein müssen. Bemerkenswert und auffällig ist schließlich noch, dass dieses anregende und ermunternde Buch nicht bei Herder im katholischen Freiburg, auch nicht bei Kösel im bayerischen München, sondern im epubli-Verlag im säkularen Berlin erschienen ist.

Ich bin auf den Grund gegangen – aber nicht zugrunde

Zur Zölibatsdebatte in der katholischen Kirche

Eine Werbung für eine wichtige Neuerscheinung

Vorsicht – es geht um ein Modethema, sagen die einen. Nein – es ist ein Dauerbrenner, parieren die anderen. Für die einen ist zölibatäres Leben Bereicherung, für die anderen hochriskant und gefährlich… Es geht somit bei dieser Neuerscheinung um ein Thema voller Brisanz! Das Buch von Lorenz Zellner ist im Winter 2013/14 erschienen und musste sich themenbedingt warm anziehen. Denn es war zu befürchten, dass es auf große Kälte und scharfen Gegenwind stoßen könnte. Obwohl es mit Wärme und Liebe zur Seelsorge geschrieben ist! Also musste zur Richtschnur werden: Möglichst wenig Löcher und Lücken offenlassen und sich keine allzu großen Fehler und Schnitzer leisten. Und so gut es geht: Freundlich und sachlich bleiben. (NB: Kälte und Gegenwind sind wie der Winter bisher ausgeblieben!)

Zunächst fällt auf: Man stößt überall im Buch auf die persönliche Handschrift des Verfassers und seine Erfahrung in der Seelsorge. Das Buch ist anspruchsvoll, manchmal muss man sich durchquälen, es ist aufregend, aber dann doch wieder friedlich, es atmet Leichtigkeit und enthält immer wieder versteckten Humor. Es ist keine Kampfschrift gegen etwas, sondern eine Werbung für etwas. Die Sprache ist absolut im grünen und zur Weiterfahrt einladenden Bereich. Auch wenn der Autor in seinem Leben Federn gelassen hat, ist er nicht bei der Schwere der Dinge zu Boden gegangen. Seine Arbeit hat er gegen Kritik gut abgesichert. Man tut sich schwer, ihm Böses oder Dummheit zu unterstellen. Das Buch, das auch viel Denkgut unserer Zeit enthält, dürfte bei Menschen im Vorhof der Kirche gut ankommen. Insgesamt ist es vor allem aber eine notwendige Arbeit an der Zukunft der Kirche.

Der Autor gibt den Lesern einen Einblick, zu welchen Schritten das Leben, das Schicksal oder auch die Kirchenverfassung einen Menschen, einen Priester zwingen kann. Und er gibt Einblick in seinen Glauben, wobei es ihm vor allem um das „Kerngeschäft“ des Glaubens geht. Angenehm ist es zu hören, dass für Zellner Glauben und Wissen keine Gegensätze sind. Wo beides unvereinbar erscheint, darf man ruhig ungläubig sein. So kann man den denkenden gläubigen Autor durchaus verstehen. Im Blick auf das Hauptthema „Ehelosigkeit der Priester“, das Zellner geschickt in größere Zusammenhänge stellt, vergleicht er sachlich, gekonnt und provokant die natürliche Sinnfigur Ehe mit der künstlichen Sinnfigur Zölibat. Mit dieser Einbettung der Zölibatsdebatte in größere Zusammenhänge kommt ansprechend auf den Tisch, was in der Kirche blüht, aber auch, was an Flurbereinigung und Ideenwäsche nötig ist.

Der Autor ist am II. Vaticanum gewachsen. Das Konzil scheint auf vielen Seiten immer wieder durch. Das Konzil suchte einst die Welt von heute, es suchte den konkreten Menschen, der etwas braucht, um in dieser Welt in Würde zu leben. In der Begegnung mit der Welt von heute kommt aber die Hilf- und Sprachlosigkeit der Pastoral immer wieder erschütternd zum Ausdruck. Und dies vor allem im Blick auf die Ehen und Familien! In deren „Armut“ hinein sollen gezielt die Diener der Kirche, fordert Zellner. Und genau aus diesem Bereich und seinem gottgeschaffenen Reichtum heraus braucht die Kirche die künftigen Seelsorger. Das Buch ist wahrlich ein Glaubensbuch in unserer Zeit. Es ist ein Bekenntnis zu einer Kirche mit einem Kerngeschäft und vielen „bunten“ Glaubensweisen und unterschiedlichen umständebedingten Seelsorgestrukturen. Es macht Hoffnung, wenn Zellner belegt, dass Seelsorge und Christsein auch anders gehen als bisher gedacht. „Als Christus durch die Welt ging“, schrieb einmal der frühere Regensburger Pastoraltheologe Josef Goldbrunner, „konnte jedermann `die Güte und Menschenliebe Gottes´ (Tit 3,4) erfahren“. Genau darum geht es auch heute. Man muss in die Welt gehen und aus der konkreten Welt kommen und möglichst menschennahe sein und bleiben. Dafür ist dieses Buch geschrieben.

Kapitel 16   aus dem Buch:

Der Auftrag, der sich aus der Schöpfung ergibt

Der Priester im Dienst der Schöpfung

Auf die Schöpfung hören und sie bezeugen Wie auf die Offenbarung durch Jesus Christus haben wir auch auf die erste Offenbarung Gottes, auf die Schöpfung zu hören. Eine Wirklichkeit ist da, eine Umwelt, eine Mitwelt, und wir selber sind da, eingebunden in eine Ordnung, die wir kennenlernen und erforschen müssen. Und eingebunden in einen Gestaltungsauftrag, der sich auf uns selbst und auf die ökologische, soziale und geistige Landschaft um uns bezieht. Herangehen an die Wirklichkeit, Vorstoßen, Eindringen heißt die Devise, nicht Darüberstehen oder im Untergrund verschwinden. Nicht Rückzug, Abwehr oder Entsagung heißt das Lebensmotto, sondern Verstehen und Gestaltung. Hier muss die Kirche ihren alten Anspruch, über die alleinige Einsicht in das Wesen der Welt und des Menschen zu verfügen, ein gutes Stück zurückschrauben. Wichtige Einsichten sind jetzt in anderen Händen. Die Kirche kann sich jedoch heute wie keine Zeit vorher der modernen Wissenschaften und ihrer Kompetenz bedienen. Und sie kann umfassend und qualifiziert wie noch nie bezeugen, welche Einsichten über die Schöpfung Gottes und ihre Logik zur Verfügung stehen. Und diese Logik ist manchmal ganz anders als bisher gedacht!

Wenn man genau hinsieht, wird die Schöpfung heute innerkirchlich nirgends weniger verstanden und nirgends mehr konterkariert als im Beziehungsbereich von Mann und Frau. Rolf Grigat, der langjährige Familientherapeut des Bayerischen Rundfunks hat schon vor Jahren von einem „unnennbar christlichem Elend“ auf diesem Gebiet gesprochen. Hier ist die Kirche nicht mehr im Boot. Hier herrscht Betriebsblindheit. Hier fehlt ihr etwas, in Theorie und Praxis. Hier ist etwas nicht mehr ausbalanciert. Hier fehlen Außenansichten – und vor allem fehlt ein „Bewusstsein von dem, was fehlt“ (Satzprägung von Jürgen Habermas). Es wird erwartet, dass gerade die Theologie und die Pastoral absolutes Interesse an der Logik des Seins signalisieren und dass die Logik des Denkens nicht weiter desavouiert wird. Und dass die Kernbotschaft und das Kerngeschäft des Christentums im Blick bleiben! Und dass darüber ernsthaft nachgedacht wird, warum die Botschaft an so vielen geistigen und geistreichen Menschen scheitert – und weniger diese Menschen an ihr! Und warum die kirchliche Verkündigung für viele keine ernsthafte Alternative zur Plattheit unserer Lebenswelt ist! Oder um beim Beispiel Zölibat zu bleiben, warum eine Disziplinarverordnung immer noch wie ein großes Dogma behandelt wird! Und warum auch in Zukunft Menschen, die Teil der Schöpfung sind und somit Anteil an der Zuwendung und Zärtlichkeit Gottes haben, von dieser Zärtlichkeit ausgeschlossen bleiben sollen! Und warum sie sich einen herausfordernden Gestaltungsauftrag entziehen sollen! Und warum die Kirchenoberen keine Kosten-Nutzen-Rechnung für ihre bisherigen Präferenzen, Vorlieben und Verliebtheiten erstellen! Und letztlich: Warum sie nicht erkennen wollen, dass ihnen auch in Bezug auf die Schöpfungsordnung klare Grenzen gesetzt sind!

Die Schöpfung in ihrem ganzen Umfang und mit allen Fasern und Farben leben

Die Schöpfung hat eine Logik. Ihre Logik verfehlt, wer im falschen Gebrauch seiner Freiheit exzessiv oder defizitär lebt. Ihre Logik verfehlt, wer sich auf Details einengt oder Zentrales und Wesentliches ausklammert. Nicht ohne theologische und anthropologische Gründe stelle ich viele Fragen an die Vermeidung der Welt zentraler Beziehungen, wie sie die priesterliche Ehelosigkeit fordert. Dabei scheint das Resumé so klar zu sein, das da lautet: Zölibat macht alles in allem das Dasein nicht heller, das Denken nicht klarer, den Willen nicht stärker, die Seele nicht gesünder, das Herz nicht fröhlicher, das Menschsein als Frau oder als Mann nicht lebendiger und lebbarer, die Beziehungen nicht sozialer und die Liebe zu Gott nicht voller, runder und satter – und das Sterben oft nicht einfacher! Werden zentrale Lebensweisen des Menschen aus seinem Denken und Gestalten ausgeklammert, wird die Lehre von der Logik und Güte der Schöpfung leicht zu einer Leerformel bzw. zu einer unverbindlichen Liebenswürdigkeit. Die Schöpfung in ihrem ganzen Umfang und mit allen Fasern und Farben leben, da muss die Kirche wieder in zielführender Weise tätig werden und einen Prozess einleiten, der die jahrhundertelange Selbstfesselung an verbrauchte Ideologien aufhebt. Hier muss auch die kirchliche Elite einbezogen werden und bei der praktischen Gestaltung in der ersten Reihe sitzen. Vorbilder sind gefragt. Es bleibt nicht viel Zeit, den Grund dafür zu legen, dass persönliche Ganzheit in der Gestalt einer starken Priesterpersönlichkeit und soziale Ganzheit in Gestalt eines liebenden Paares für den seelsorgerlichen Menschendienst gute Früchte bringen können.

Die Einheit von Gottes- und Schöpfungsliebe anerkennen und praktizieren

Eines meiner theologischen Lieblingsthemen möchte ich hier nicht unerwähnt lassen. Dieses ruft auf Grund vieler Unklarheiten und Missverständnisse direkt danach, zu Gehör gebracht zu werden. Es geht um die Verhältnisbestimmung von Gottes- und Nächstenliebe. Karl Rahner hat in verschiedenen Aufsätzen die Ansicht vorgetragen, „Gottes- und Nächstenliebe“ hätten „eine viel größere Einheit, als es so in unserer landläufigen Vorstellung gegeben zu sein scheint“ (1). In einem Aufsatz in „Glaube, der die Erde liebt“ (2) fügt er dieser Feststellung bescheiden hinzu: „Und darüber wollen wir ein wenig nachdenken“ (3). Das Nachdenken ist berechtigt. Und nicht nur das Nachdenken über das Verhältnis von Gottesliebe und Nächstenliebe, sondern auch über das Verhältnis Gottesliebe und Selbstliebe und generell über das Verhältnis Gottesliebe und Schöpfungsliebe – Schöpfungsliebe als Oberbegriff verstanden.

In der landläufigen Theologie und Frömmigkeit ist über dieses Verhältnis höchst unzulänglich nachgedacht worden. Und dies in zweierlei Hinsicht: Sehr zu Missverständnissen führend schaut die gängige Wahrnehmung im allgemeinen so aus, als habe Gott uns Menschen eine Reihe von Inhalten als Liebespflicht geboten und auferlegt – und Gott selbst ist unter anderem auch dabei, in einer Reihe mit allem anderen Inhalten. Eine naive Aufzählung der Objekte dieser Pflicht lässt vermuten, es handle sich um vergleichbare Komplexe, Komplexe derselben Art, einfach aneinandergereiht, nebeneinander gestellt, gleichgestellt, gleichgewichtig, ohne qualitative Unterschiede. Es ist aber anders. Gott als Objekt neben anderen Objekten ist ein Denkfehler mit nachhaltigen Folgen. Noch problematischer ist aber eine andere Tatsache, dass nämlich zwischen Gottes- und Schöpfungsliebe oder Gottes- und Menschenliebe ein Konkurrenz- bzw. Ausschließlichkeitsverhältnis konstatiert und gepflegt wurde, ein Entweder–Oder, das zur Verwirrung führt – und so zur Falle für viele Menschen wurde und immer noch wird.

Beide Missverständnisse haben in Bezug auf ihre Begründung und Legitimation gute Karten und eine lange und satte Tradition. Probleme werfen schon die biblischen Schriftsteller auf. Im biblischen Hauptgebot der Liebe werden auf die Frage nach dem wichtigsten Gebot (Mt 22,34-40) bzw. nach dem richtigen Tun, um das ewige Leben zu erlangen (Mk 12,28-34 und Lk 10,25-28), zwei Pflichten – Gottesliebe und Nächstenliebe bzw. Selbstliebe – unreflektiert und unterschiedslos wie oben beschrieben aneinandergereiht. Es ist nun verfänglich, Gott im gleichen Atemzug als Objekt der Liebe zu nennen wie das Geschöpf Mensch. Das sind zwei ungleiche Ebenen. Das Verhältnis ist komplexer und will geklärt sein. Unerträglich und konflikthaft wird es aber, wenn an vielen Stellen der Bibel Gott gegen die Schöpfung und die Schöpfung gegen Gott ausgespielt werden. Als Beispiel erwähne ich in Bezug auf die mitmenschliche Liebe die Stelle im Matthäusevangelium (Mt 10,37): „Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, ist meiner nicht würdig; und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, ist meiner nicht würdig.“ Und ich zitiere ein Schriftwort, das die Selbstliebe betrifft: „Wer mein Jünger sein will, der verleugne sich selbst“ (Mt 16,24). Missverständlich, grenzwertig und missbrauchbar sind auch Stellen wie Jesu Wort an den reichen Jüngling: „Wenn du vollkommen sein willst, geh, verkaufe deinen Besitz und gib das Geld den Armen; so wirst du einen bleibenden Schatz im Himmel haben; dann komm und folge mir nach“ (Mt 19,21). Leider sind solche plakative Sätze zu allen Zeiten hofiert, gepredigt und umgesetzt worden. Über die Opfer dieser Texte ist man sich jedoch die Rechenschaft schuldig geblieben.

Der Widerspruch blieb natürlich nicht aus. Ein ganz Großer der Familientherapie, der Heidelberger Professor Helm Stierlin hat sich 1982 im „Spiegel“ (4) mit diesen Texten auseinandergesetzt. Helmut Hark schreibt darüber in seinem Buch „Religiöse Neurosen“: „Stierlin hat durch die Brille des Familientherapeuten das Neue Testament gelesen und dabei Konturen und Motive eines explosiven Konfliktes entdeckt… Als Familientherapeut weist Stierlin mit tiefer Sorge darauf hin, dass solche radikale Forderungen bei den Menschen tiefe Ängste und Schuld erwecken müssen und daher weder dem Frieden mit Gott noch dem Frieden auf der Erde dienen können“ (5).

Auch ein ganz Großer der Theologie hat sich – wie schon oben erwähnt – zum gleichen Thema zu Wort gemeldet: Karl Rahner. Er hat ebenso wie Helm Stierlin das Problem erkannt und Einspruch erhoben. Wenigstens theoretisch scheint deshalb heute unter Theologen Konsens zu herrschen, dass Gottesliebe und Schöpfungsliebe, Gottesliebe und Nächstenliebe, Gottesliebe und Selbstliebe keine getrennten Komplexe sind, dass sie nicht nebeneinander existieren, dass sie auch nicht identisch sind, sondern dass sie ein besonders enges Verhältnis zueinander haben, dass sie eine ganz besondere Einheit sind. Sie schließen sich gegenseitig ein. Nach Rahner steckt das eine im anderen drin! Darum gibt es auch keine grundsätzliche Konkurrenz und kein auf irgendeine Weise zu rechtfertigendes Ausspielen. Ausspielen wäre ein Schlag ins Zentrum des christlichen Schöpfungs- und Inkarnationsverständnisses. Über Letzteres später!

Schon Leon Bloy hat sich im „Brief an seine Braut“ mit deutlichen Worten gegen dieses Ausspielen gewandt. Er schreibt: „Sie haben mir geschrieben: `Ich liebe Gott mehr als Sie´ … Die Idee, diese zweieinige Flamme der Liebe auseinander zu reißen, ist für mich eine Klügelei, eine Grübelei, die mir überhaupt nicht in den Sinn kommt“ (6).

Diese Idee betont auch Rahner. Er schreibt in seinem Aufsatz „Der neue Auftrag der einen Liebe“ im Sammelband „Glaube, der die Erde liebt“ (7) klare und treffende Sätze über das Ineinander von Gottes- und Nächstenliebe (bzw. Schöpfungsliebe), Worte, die sich immer wieder zu lesen und zu meditieren lohnen. Rahner hat in diesen Sätzen durch seine eigene klare Positionierung auch dem unwürdigen und unheilvollen gegenseitigen Ausspielen der verschiedenen Komplexe der Liebe einen Riegel vorgeschoben.

Ich zitiere aus seinem Aufsatz einige besonders anrührende Sätze: „Die Schrift sagt uns,… dass nicht nur zwei Gebote da sind, die einander gleichen, vielleicht gleichwichtig, irgendwie verbunden sind, sondern dass eines im anderen drinstecke“ (8). „So geht die These…dahin, dass diese Gottes- und Nächstenliebe sich derart gegenseitig einschließen, dass dort, wo der Mensch wirklich…auf das andere menschliche Du hin sich vollzieht und wirklich das tut, was Nächstenliebe heißt, er schon Gott liebt“ (9). „Die These geht gewissermaßen dahin, dass, indem der Mensch den Nächsten wirklich liebt, er gewissermaßen in die letzten Tiefen seines Wesens, in die letzten Wirklichkeiten der Welt …hineinfällt …und …in seiner Liebe schon mit dem Gott seines ewigen, übernatürlichen Heiles zu tun hat“ (10).

Rahner als Seelsorger weist auch im Bezug auf das Heute darauf hin, „dass nur dort, wo und inwieweit der Mensch ein echtes, liebendes, aus dem innersten Herzen kommendes Verhältnis zum Mitmenschen hat, er Gott findet und die anderen Menschen davon überzeugen kann, dass es diese Wirklichkeit gibt, die wir Gott nennen“ (11).

Aber „die innere Gesinnung muss in der Tat des Lebens, im wirklichen Tun der Liebe sich äußern, sonst ist alles leeres Gerede“ (12).

„Jesus sagt uns: ‚Was ihr dem Geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan’“. Das heißt, „dass dort, wo der andere Mensch mir gegenüber tritt, wirklich Christus da ist und mich fragt, willst du mich …lieben …Immer werden wir es mit dem Gott zu tun haben, der selber Mensch geworden ist. Es gibt in Ewigkeit keine Theologie, die nicht Anthropologie wäre“ (13).

„Nur wenn wir begreifen, dass es eine wirklich letzte Einheit zwischen Gottes- und Nächstenliebe gibt, verstehen wir eigentlich, was das Christentum ist und welch göttlich einfache Sache es doch ist“ (14).

Eine besondere Wucht, das wird jeder Leser merken, enthält der Satz Rahners: „Es gibt in Ewigkeit keine Theologie, die nicht Anthropologie wäre“. Das ist ja auch die Konsequenz aus der Inkarnationstheologie. Viele asketische Programme der Christenheit entziehen nun, das muss klar gesagt werden, der Gottesliebe eine große Chance. Etwa in der propagierten und praktizierten Ehelosigkeit werden Christen aus einer zentralen gottgegebenen Liebesbeziehung herausgenommen. Bei ihnen wird auch der Spielraum, Gott zu begegnen, nachhaltig eingeschränkt. Es ist höchste Zeit, hier denkend und handelnd einzugreifen. Dass die von Gott gegebene Schöpfung von eben diesem Gott wegführt, ist ein Irrglaube, der nur Bodenlosigkeit bzw. Hirngespinste erzeugt. Nur der exzessive oder defizitäre Gebrauch ist strafbar bzw. straft sich von selbst. Die normale Schöpfung führt grundsätzlich zu Gott hin. Nach Teilhard de Chardin will sie uns „bis zu Gott hintragen“ (15). Nur eine solche Religion, eine solche Denkweise verdient es, gelehrt und gelebt zu werden.

Anmerkungen

1 Karl Rahner, Glaube, der die Erde liebt, Freiburg im Breisgau 1966, 85

2 Ebd. 85-95

3 Ebd. 85

4 Der Spiegel, 1982, Nr. 35

5 Helmut Hark, Religiöse Neurosen, Stuttgart 1984, 137-138

6 Leon Bloy, Briefe an seine Braut, Leipzig 1977, 30

7 Karl Rahner, Glaube, der die Erde liebt, Freiburg im Breisgau 1966, 85-95

8 Ebd. 87

9 Ebd. 88

10 Ebd. 88

11 Ebd. 86

12 Ebd. 87

13 Ebd. 93-94

14 Ebd. 95

15 Pierre Teilhard de Chardin, Lobgesang des Alls, Olten und Freiburg im Breisgau 1964, 82

Freundlicher Verweis auf den Artikel von Manfred Hanglberger

Zölibat: „Geschenk Gottes“ und/oder Machtinteresse der Kirche?

siehe: www.hanglberger-manfred.de