Evangelium trifft auf Wirklichkeit

Evangelium trifft auf Wirklichkeit

Aktuelle Anmerkungen zur Aufforderung, den „Armen“ das Evangelium zu verkünden

Eine Stimme aus der Praxis

Das Wort „Evangelium“ ist seit dem Apostolischen Schreiben von Papst Franziskus mit Datum vom 24.11.2013 in vieler Munde. Im großen Koffer der Theologie kann man eine Menge an inhaltlichen Erklärungen des hehren Begriffes finden, sofern man sich die Zeit nimmt und die Mühe nicht scheut. Wort und Begriff sind also da. Jedoch der Mehrzahl der Christen sind Wort und Bedeutung bereits abhanden gekommen – auch wenn viele immer noch eher unbewusst im von diesem Wort geprägten Ambiente mitschwimmen. Es fragt sich: Wie lange noch?

Ich habe für mich versucht, das, was mit Evangelium gemeint ist, abzuklären und kurz zu fassen. In Abwandlung eines schönen Wortes des Kirchenvaters Irenäus von Lyon ist für mich das Evangelium Gottes der lebendige Mensch, der Mensch und besonders der Christ, der Jesus Christus für das Heute glaubwürdig aktualisiert. Ohne den lebendigen Christen geht zuerst einmal nichts. Dann ist Evangelium auch eine inhaltliche Botschaft, die zu den Menschen gebracht werden will, eine Botschaft, eine gute Nachricht, die jeweils auf eine konkrete zeit- und umständebedingte Realität trifft. Dieser Realität gilt es sich zu stellen. Dabei treten vielfache Probleme zutage. Ich will drei Bereiche besonders herausgreifen.

Für unsere gesellschaftliche Realität und ihre Sprache ist Theologie inzwischen zu einer Sondersprache geworden. Man soll sich nicht täuschen: Die großen Begriffe und ihre Inhalte kommen nicht mehr an. Sie sind kein Teil des Lebens mehr. Sie sind vielfach Anlass zu gehässigem Spott und zustimmendem naiven Beklatschen. Die Veräppelung des Kölner Kardinals Joachim Meisner und des in seinem Abschiedsgottesdienst von ihm gesungenen Textes der Präfation des 1.Fastensonntags („den alten Sauerteig zu entfernen“), wie es in der „heute-show“ des ZDF vom 14. März geschah, ist dafür ein beredtes Zeichen. Eine neue Herausforderung bahnt sich an…

Aber auch innerkirchliche kritische Töne erreichen mein Ohr. Ich höre ernsthafte Kritiker, die sich nach dem Erscheinen von „Evangelii Gaudium“ über die inflationäre Verwendung und fast manische Aufblähung des schönen Wortes „Evangelium“ ärgerten. Ich höre den tschechischen Theologen Tomás Halík, der von einer „schamlosen Leichtigkeit“ spricht, wie die großen Worte unseres Glaubens über unsere Lippen gleiten und auf den Tisch gebracht werden. Dieses Faktum wird von Kirchenmännern, kirchlicher Administration und der Theologie vielfach ignoriert. Ich lese, wie der Priester und Publizist Gotthard Fuchs vor dem großen Wort „Gott“ „in Ohnmacht und nicht ohne Scham“ dasteht (CIG 10/2014) und Simone Weil zitiert „Das Christentum“ resümiert die französische Philosophin und Mystikerin, „… spricht zuviel von den heiligen Dingen. Der Gegenstand meiner Suche ist nicht das Übernatürliche, sondern die Welt.“ Ich nehme wahr, was eine evangelische Theologin, Kathrin Oxen, Pfarrerinnen und Pfarrern für die Fastenzeit 2014 empfiehlt, nämlich auf „große Worte“ zu verzichten, und „die großen Begriffe in kleiner Münze auszuzahlen“. Hier mag man auch das Unbehagen von Papst Franziskus einreihen, wenn die große Theologie (und vorzugsweise ihre großen Verfechter) nicht zu den „Armen“, zu denen am Rand, an den Rändern der Existenz geht, wenn sie dort nicht ankommt, wo sie eigentlich hingehört, wenn eine Sonderwelt, eine eigene Kultur zelebriert wird, abgeschlossen von der unvollkommenen ganz gewöhnlichen Welt.

Ich begegne einer weiteren Realität. Ich komme an einer Geschichte nicht mehr vorbei, die Peter Rosien in seinem Buch „Mein Gott, mein Glück“ erzählt und die viel Nachdenklichkeit auslösen kann. Da beginnt eine Studienfreundin aus längst vergangener Zeit einen Brief an Rosien mit einem sehr persönlichen Glaubensbekenntnis. Sie schreibt: „Jesus ist einfach die einzige ‚göttliche’ Figur, die sich mit den Armen und Benachteiligten identifiziert, die ihnen den Konventionen zuwider Solidarität, Liebe und Trost gewährleistet. Weil ich das so sehe, bin ich wahrscheinlich ziemlich christlich.“ Und dann schaltet sie auf einen ganz zentralen und für jeden Seelsorger höchst beachtenswerten Gedanken, sie traue sich und ihrem Glauben, ihrer Mystik nicht so recht über den Weg. Die Skepsis dieser Frau ist unwiderlegbar, wenn sie schreibt: „Es ist uns beiden ja auch ein ganzes Leben gut gegangen, wir sind beide Gerettete. Da hat die gefühlte Gottesgegenwart ein leichtes Spiel. Die historisch einmalige Sicherheit und Freiheit unserer persönlichen Lebenswelt mag dieses Gefühl erzeugen, dass da jemand für uns da ist. Das ist aber vielleicht auch eine Illusion. Wie soll denn ein von den eigenen Eltern geschlagenes, gequältes, halbverhungertes Kind Gott wahrnehmen?“ Diesen Stachel, meint Rosien in seiner Kommentierung,  kann kein Gottgläubiger so leicht herausziehen. Die Frage sitzt uns tief im Fleisch: Sind theologische Botschaften in unseren Breiten nur noch etwas für die Mittelschicht, für Wohlbefindliche, über deren Leben steht: „Glück gehabt“, also etwas für Leute, wo im Großen und Ganzen alles gut läuft? Wo es nicht allzu schwer ist, sich gut zu benehmen, anständig zu bleiben und anständig durchzukommen?

Wo das Leben schwer ist, dort ist vielfach mein Arbeitsalltag. Theologie trifft hier gewöhnlich auf eine Wirklichkeit, wo ich den Theologen in mir zurückstellen muss, wo mir Tag für Tag die Ferne der hohen Theologie und ihrer Begriffswelt aufgezeigt wird. Dort spürt man besonders die „schamlose Leichtigkeit“ der großen Worte – und sagt sie nicht mehr. Dort gilt eher der Wert der „kleinen Münzen“. Ich bin ja in meinem Beratungsalltag vielfach bei denen, die – schicksalhaft und/oder schuldig – mit den hohen Ansprüchen der kirchlichen Lehre nicht mithalten konnten oder wollten, die abgestürzt sind, die mit den Worten des Papstes ausgedrückt beispielsweise „im Leben das Unglück hatten, dass ihre Liebe scheiterte“, und deren Schmerz man nachempfinden, mit denen man mitgehen müsse. Ich bin bei denen, deren Partner nicht mitgewachsen sind, für die die Ehe ein Gefängnis geworden ist. Ich bin bei denen, die eine Reihe von Beziehungen durchlebt haben und von der angebotenen Freiheit überfordert waren. Ich bin bei denen, die allein blieben, aber auch bei denen, die den fünften Anlauf zum Glück nahmen, für die das Wort Ehesakrament eine religiös romantische Vorstellung bedeutet und deren aktuelle Beziehung nach der Definition der Kirche kein Heilsort mehr sein kann. Ich bin bei denen, die das Evangelium in ihrer Kindheit als Belastung empfanden oder die gänzlich davon unberührt blieben, und bei denen, die kein Wort über Theologie und Glauben mehr verlieren, die keine Hilfe von der Kirche erwarten, die keine Lust mehr haben, katholisch zu sein, denen es nichts mehr oder nicht mehr viel ausmacht, wenn sie keine Sakramente der Kirche empfangen dürfen (und denen sich aus Solidarität oder Trotz bereits Familienangehörige und Freunde angeschlossen haben). Ich bin bei denen, wo „von der Schönheit des Evangeliums“ (Kardinal Kasper) keine Spur zu finden ist, die auf keinen Dialog mit der Kirche setzen, weil man sich vorher empathisch und fachlich für sie interessieren müsste. Weil dem aber oft nicht so ist, gibt es auch nichts zu besprechen. Ich bin bei denen, die abgefallen sind und bei denen, die es am eignen Leib erlebt haben, dass die amtliche Kirche sie als Abfall ansieht und sie mobbinghaft ignoriert. Ich sehe und erlebe den Abgrund, von dem auch Kardinal Kasper spricht, der sich zwischen der Lehre der Kirche und dem gelebten Leben und Befinden vieler Menschen aufgetan hat.  

Ich habe drei ganz unterschiedliche Realitäten genannt, auf die Evangelium trifft. Sie sollen die Komplexität der Situation darstellen und zeigen, wie leicht das Wort Evangelium über die Lippen geht und wie schwer es heute die Sache hat, die Evangelium heißt. Ich habe darauf hingewiesen, dass man gut daran tut, seinen Glauben selbstkritischer anzusehen, nämlich als Glück, das andere nicht hatten. Und ich habe die Gruppen ins Blickfeld gerückt, die am Rande leben und oft keine oder wenig Chancen hatten, Evangelium zu hören, zu erleben und zu leben.

Mit diesen vorausgehenden Erfahrungen und Überlegungen konfrontiert suche ich jetzt etwas Einfaches, was mir zu Sammlung und Orientierung verhilft. Ich stoße abrupt und so zur Situation passend auf die frech-frischen und ermutigenden Sätze von Klaus Hamburger in „Christ in der Gegenwart“ (CIG 2014/9), die ich für diesen Beitrag exzerpiert und zu meinem Vorhaben passend aneinander gereiht habe.

„Jesus war auf keiner anderen Erde unterwegs als auf der, die wir kennen… Jesus ermutigt, gut mit der grob gewebten Welt zu sein und mit allen, die sich an ihr wund reiben, die an ihr scheitern… Anstatt auf der Erde mit Gleichgesinnten sich exclusiv in ein berückendes Ambiente zu versetzen, geht er lieber zur Hölle… In den Paradiesen derer, die sich von der unvollkommenen Welt abgeschlossen haben, hat Jesus nichts zu suchen. Da hätte er bleiben können, wo er war. Sein Weg verläuft anders. Wie keiner sonst, der auf die Welt kommt, sieht er, was an ihr und in ihr verloren gegangen ist.“

Was mir bei diesen Sätzen auffällt, einfällt und gefällt, ist, dass hier kein Jesus auftritt, der sich mit anderen (z.B. mit der Weltkirche – heutiges Dauergerede!) abstimmen muss, wie man zu den „Armen“ geht, wie man sie anfasst, wie weit man gehen darf, was man beachten muss, damit sich die „Reichen“ nicht zu sehr aufregen. Auch fehlt mir ein Jesus, der zuerst eine Meinungsumfrage machen und eine Synode einberufen muss, damit man den Seelsorgenagel auf den Kopf trifft. Klaus Hamburger schreibt: „Er sieht, was verloren gegangen ist!“ Jesus sieht, Jesus schaut hin, das genügt. Jesus sah, weil er unter die Menschen ging und unter ihnen lebte. Und dort fiel ihm schon das Richtige ein. Und als Moral für uns stellte sich meist klar, kurz und bündig heraus – es war nur ein Satz: „Geh hin und handle genauso!“

Ich werde noch einmal ganz praktisch: Dort, wo sich mein Alltag abspielt, bin ich mit den Schatten, Beschwerden, Nöten, Schicksalen, mit der Schuld und den Unheilsgeschichten der Menschen konfrontiert. Dort sind Menschen vom Leben herausgefordert, ich auch. Dort begegne ich den Kreuzwegen und Ausweglosigkeiten, dem Aufbegehren, dem Resignieren, dem Agieren und dem Zustimmen. Dort suchen Menschen mit mir gemeinsam Lösungen.

Was ist hier in erster Linie nötig? Es klingt ungewöhnlich: Ich brauche im wahrsten Sinn des Wortes immer wieder einen „Hammer“, ich brauche den „Hammer“, dass all diese Menschen, mit denen ich zu tun habe, Gott und Jesus „gut genug“ sind, dass über allen grundsätzlich Gottes Sonne scheint und meine Sonne gefragt ist, dass ich mit den klassischen Unterscheidungen „Gut“ und „Böse“ sehr vorsichtig sein muss. Ohne diese Einstellung und eine solide Fachlichkeit komme ich in Seelsorge und Beratung nicht weiter.

Ein Beispiel dafür, was fachlich geschehen kann, mag genügen, damit meine Gedanken und mein Tun nicht allgemein und blutleer bleiben. Da ist eine Frau, die nicht mehr weiß, wie sie es mit ihrer Ehe halten soll, die am Ende ist. Sie schildert ihren Partner als harten Burschen, unsensibel, stur, uneinsichtig, grob. Sie fürchtet um ihre Kinder. Deren Beziehung zum Vater sei nur noch von Kampf oder Flucht geprägt. In einer verantwortungsbewussten und fachlich durchgeführten Aufstellungsarbeit steht der Ehemann gegen alles Erwarten geknickt da. Etwas Schlimmes, Furchtbares spürt er hinter sich. Er äußert, jemand müsste hinter ihn schauen, bzw. jemand müsste ihn liebevoll durchschauen. Die Ehefrau ist bewegt. Sie lernt zum ersten Mal, ihren Mann in einem größeren Zusammenhang zu sehen. Wie das spätere gute Ergebnis zeigte: Die neue Perspektive hat sich gelohnt. Die Frau hatte ihren Mann bisher mehr oder weniger nur als Punkt gesehen, der an einem bestimmten „Punkt“ schuldig und unerträglich wurde. Sie hat jetzt gelernt, den festgefahrenen Blick auf den „Punkt“ zu erweitern und ihn auf eine „Linie“, auf die Lebens-„Linie“, auf den bisherigen Lebenslauf zu richten bzw. auf das weite Familien-„Feld“, aus dem ihr Mann kam – und schließlich auch auf den „Raum“ der Vorfahren, deren Schicksal bekanntermaßen oft noch über Generationen bei unserem Tun und Lassen mitschwingt.

Oft genug erlebe ich als Wichtigstes, was viele Rätsel löst: Hin schauen, dahinter schauen und jemanden liebevoll durchschauen. Auch wo es um menschliches Sündigsein geht, wird eine Seelsorge, die systemisch denkt, absolut fachlicher, gerechter, differenzierter, heilender: Diese Seelsorge weiß um Beides, um Verstrickung und Verantwortung. Solch differenziertes Denken ist dem Menschen angemessener, macht den Helfer klarer, aber auch wohlwollender und weicher und führt immer wieder zu schönen Lösungen.

Dort, wo ich im Alltag bin, lebe ich aber nicht nur im Schatten, ich lebe auch im Licht von Menschen, im Licht ihres natürlichen Gutseins, ihrer Disziplin, ihrer Ausdauer, ihrer Treue. Auch in der „grob gewebten Welt“ findet tagtäglich Heil statt. Kaum einmal im Jahr fällt dabei das Wort „Evangelium“ oder bei Paaren das Wort „Sakrament“, aber „Evangelium“ wird gelebt, wird Tag für Tag im Sinn Jesu – ob bewusst oder unbewusst – aktualisiert. Wie nahe ist mir immer noch die geschiedene und in einer neuen Partnerschaft lebende Frau, die ihren schwerstbehinderten Sohn bis zu dessen Tod voller Hingebung und sich täglich neu aufraffend pflegte. Das kleine alltägliche Heil und genauso wahre Größe findet auch unter Geschiedenen und Wiederverheirateten statt. Auch diese Menschen sind Heilsorte, selbst wenn es ihnen niemand bestätigt und sie ihr Tun keinesfalls mit so großen Begriffen beschreiben würden. Es gibt viele Orte, wo immer wieder die „Welt“ die Kirche bekehrt, auch mich und mein Besserwissen, wo Liebe, Geschwisterlichkeit, Treue, Anstand zuhause sind. Da tut sich so manches, was sich mit den Erfahrungen des Papstes trifft: „Ich kann wohl sagen, dass die schönsten und spontansten Freuden, die ich im Lauf meines Lebens gesehen habe, die ganz armer Leute waren, die wenig haben, an das sie sich klammern können.“ Der Papst meint, wir könnten  auch von den „Armen“ evangelisiert werden. Er knüpft hier an das 2. Vatikanische Konzil an, das dazu auffordert, auch das zu beachten, was die Kirche der Welt verdankt!

Natürlich dringt in diese Welt all das ein, was über die Kirche medial bzw. leider auch über persönliche Erfahrungen vermittelt wird: Das Versagen mancher Kirchendiener, geistliche Irrationalität und Borniertheit, unsachlicher Umgang mit Geld, mondänes Gehabe und Weltfremdheit, Streitereien zwischen fortschrittlichen und traditionellen Christen, Kirchenversammlungen ohne greifbare Resultate usw. Und der heute oft schon unerträgliche Spott auf alles Religiöse. Aber auch Hoffnung dringt immer wieder durch. Zur Zeit ist Papst Franziskus der große Hoffnungsträger, dem überall viel Wohlwollen zu den Menschen bescheinigt wird und der unentwegt dazu auffordert, besonders die Menschen in den Blick zu nehmen, deretwillen Gott Mensch, Mitmensch, Welt wurde, die „Armen“ jeder Couleur. Jedoch gleichzeitig höre ich die Schriftgelehrten, die in ihrer „Spitzfindigkeit“ (Ausdruck des Papstes) mit der Killerphrase reagieren: „Aber keine Barmherzigkeit zu herabgesetzten Preisen.“ Berufsbedingt ärgere ich mich auch, wenn über die Menschen meines Alltags plakativ und undifferenziert von ihrem freien Willen gesprochen wird, von der menschlichen Würde, endgültige Entscheidungen treffen zu können, wenn Eheabschlüsse generell als freie Wahl deklariert werden usw. Ja, wo leben wir denn! Ich bin lange genug im diagnostischen und therapeutischen Bereich tätig und mahne differenziertere Bewertungen und größeren Respekt vor subjektiven Entscheidungen an. Immer wieder geht mir auf, wie „unausgereift“ unsere Seelsorge-, unsere Beratungs- und unsere Verkündigungskulturen sind.

Noch ein Wort zu den kürzlich von Kardinal Kasper vorgetragenen Gedanken zu einem Neuentwurf der Seelsorge für Ehen und Familien: Im Blick auf den desolaten Zustand dieser Seins- und Sinnfiguren hat er zu geistiger Unterscheidung, Weisheit und seelsorgerlichem Augenmaß sowie zu einem mutigen und milden Glaubenszeugnis geraten. Der Papst selbst mahnt vor allem zur Barmherzigkeit, die es aber herablassend, ohne liebevolles Hinschauen, Dahinterschauen und Durchschauen bzw. ohne Respekt und ohne Fachlichkeit und vor allem ohne Mitleben und Nähe nicht geben kann.

Sehr skeptisch bin ich allerdings bei den Ausführungen von Kardinal Kasper, was seinen Glauben an den Heimkehrwillen der bisher Ausgeschlossenen betrifft. Viele Verletzungen sind zu groß, manche sehen sich von der Kirche an den Pranger gestellt, gesteinigt oder als „Abfall“ angesehen. Viele haben sich neu etabliert, andere Hilfen gefunden und festgestellt: Es geht auch ohne Kirche ganz gut. Ob sie unter diesen Umständen Buße tun wollen und Tränen der Reue erbringen können? Ich glaube es kaum! Noch dazu, wenn die bisherige Ehe eine einzige Buße und voll von Tränen war! Ich vermute, es ist für viele einfach zu spät.

Skeptisch bin ich auch, ob eine eigene und schnell eingerichtete Spezialseelsorge ankommt. Angedacht sind ja Spezialisten, die interessierte Betroffene beraten und Gottes Barmherzigkeit an die Frau bzw. an den Mann bringen sollen. Es ist auch hier zu vermuten, dass das Ergebnis ähnlich mager sein wird, wie es mit dem Wiedereintritt in die Kirche nach einem früheren Austritt gehandhabt wird.

Ich denke noch einmal an die Worte von Klaus Hamburger. Sie treffen sich interessanterweise mit Bildern meiner Wohnungseinrichtung. In meinem Arbeitszimmer hängen zwei der für mich persönlich wertvollsten Bilder aus dem Familienerbe: die Erstkommunionandenken meiner Eltern, beide exakt mit 1911 und 1914 datiert, also rund 100 Jahre alt. Das Motiv ist das Gleiche, zweimal Jesus im Kreis seiner Freunde beim letzten Abendmahl – einmal gestaltet von Leonardo da Vinci und das andere Mal von einem weiteren großen Künstler, den ich bisher aber noch nicht identifizieren konnte. Dazwischen hängt das moderne und mich besonders ansprechende Bild des großen religiösen Künstlers und Seelsorgers Sieger Köder, „Jesu Mahl mit den Sündern.“ Und daneben noch ein eher laienhaft gemaltes Bild mit dem biblischen Motiv von der „Speisung der Fünftausend“ durch Jesus. Diese beiden letzteren Bilder sehe ich immer mehr als mein spirituelles und pastorales Zuhause an. Sie sind meinem Selbstverständnis, meinen Intentionen und meinem Tun am nächsten. Sie gehören zur Realstruktur meiner Arbeit. Sie sind die Orte meiner Meditation, Orientierung, Motivierung und Reflexion. Sie machen anschaulich, was Pater Theo Schmidkonz S.J. in Gebetsform und jeder strengen Logik enthoben so kommentiert: „Jesus, Du Freund der Sünder und Ausgestoßenen, die Grenze deiner Liebe heißt Grenzenlosigkeit.“ Vor diesem Bild auf meiner Couch sitzen oft „ahnungslos“ meine Besucherinnen und Besucher. Aber manchmal sieht sich eine oder einer von ihnen um und bleibt an den „Sündern“ oder an den offenen Händen Jesu hängen und … dann bin ich als kundiger Christ gefragt!

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