E. Gastfreundschaft
„Willkommen“ heißt: „Schön, daß du da bist“
Ein Beitrag zum jesuanischen Verständnis von eucharistischer Gastfreundschaft und uneingeschränkter Geschwisterlichkeit aller Menschen
0 Vorwort
Die folgenden Ausführungen bestehen aus Überlegungen speziell zur kirchlichen Praxis der Eucharistiefeier und generell zur Geschwisterlichkeit aller Menschen. Sie suchen in beiden Punkten den Anschluss an den authentischen Jesus. Es sind Überlegungen sowohl vor der Kulisse der menschlichen Privatheit als auch vor der Kulisse der globalisierten Welt.
1 Hinführung
Wer und was ich heute bin, ist durch viele Begegnungen zustande gekommen. Menschen haben mich geprägt, das Christentum hat mich geprägt, Ereignisse und Vorgänge („Gipfel“- Erlebnisse und Alltägliches), Rituale, Geschichten und Texte und vieles andere mehr haben mich tief berührt, meinen Werdegang beeinflußt und meine Gegenwart bestimmt. Ich möchte mit zwei Beispielen beginnen, die mit meinem Thema direkt zu tun haben:
Als Student besuchte ich während einer Studienreise nach Paris einen Sonntagsgottesdienst in der französischen Hauptstadt. Damals, 1960, machte ich eine für mich ganz neue Erfahrung. Am Kircheneingang begrüßte der Pfarrer jeden Gottesdienstbesucher. Das hatte ich in Bayern bis dahin noch nie erlebt und so beeindruckte es mich sehr. Und zuletzt begleitete der Pfarrer einen jungen Afrikaner – mit dem Arm um dessen Schultern – zu einem freien Platz und begann die Liturgie. Ich weiß nicht warum, aber zwei ganz einfache menschliche Gesten sprachen mich nachhaltig an. Und dazu die Eucharistiefeier mit Fremden und Freunden, mit Schwarzen und Weißen, mit Franzosen und Deutschen. Zu solchen Menschen, zu einer solchen Kirche, zu einer solchen Praxis wollte ich gehören und will es auch heute noch. Ein halbes Jahr später, im Sommer 1960, fand in München der Eucharistische Weltkongress statt. Ich war für das Jugendcamp auf dem Oberwiesenfeld „zur besonderen Verwendung“ eingeteilt. Auf dem Gelände, das wegen des Dauerregens mehr Sumpf als Feld war, war ich mit meinen Freunden meist für die Einweisung und Betreuung der jugendlichen Gäste zuständig. Spät abends, ich glaube, es war schon nach 22 Uhr, trafen noch zwei völlig durchnässte junge italienische Radfahrer ein, Luigi und Vito, beide frierend und zunächst sehr zurückhaltend und scheu. Sie waren an diesem Tag bei meist strömendem Regen von Friaul über den Großglockner bis nach München gefahren. Ich versuchte, mit meinem „Italiano turistico“ den Kontakt herzustellen, besorgte zu später Stunde noch etwas zum Essen und etwas Warmes zum Trinken und ließ dann beide sich hinter viele warme Decken verkriechen. Diese zufällige Begegnung auf dem Oberwiesenfeld und das Erlebnis der großen Eucharistiefeier am darauffol-genden Sonntag auf der Theresienwiese mit einer Million Menschen aus aller Welt wirkten im Kleinen wie im Großen weiter. Im Kleinen und Privaten hat sie eine Freundschaft mit Luigi, dem späteren verantwortlichen Seelsorger für die Italiener in Deutschland und Skandinavien, bewirkt, die bis zu seinem Tod 2005 in allen Lebenslagen standhielt – und im Großen war es für mich ein Fest der Welt, wie ich es noch nie erlebt hatte.
Ein Gottesdienst in Paris in einer herzlichen Atmosphäre und ein Eucharistischer Weltkongress in München mit seinen Begegnungen haben mir Bilder einer schönen Kirche vermittelt, an die ich mich gerne erinnere.
Ich überspringe 46 Jahre. Am 19. November 2006 konnte ich über das Bayerische Fernsehen eine denkwürdige Ausstrahlung erleben. Ein Dreifaches wurde zugleich geboten:
– Eine Eucharistiefeier, wie sie nach kirchlicher Tradition zu jedem Sonntag gehört, mit dem Hauptzelebranten Kardinal Christoph Schönborn aus Wien, abgehalten in St. Peter in Rom,
– Bilder vom herrlich erleuchteten St. Petersdom, an dessen Grundsteinlegung vor 500 Jahren bei diesem Gottesdienst erinnert werden sollte,
– die musikalische Aufführung der „Krönungsmesse“ von Wolfgang Amadeus Mozart anläßlich des 250. Geburtstages des Komponisten und des Mozartjahres 2006.
Diese Fernsehübertragung hat bei mir viel Nachdenklichkeit hervorgerufen: Heute stelle ich mich folgenden Fragen: Was ist von dieser Ausstrahlung an Ausstrahlung geblieben? Was hat weiter gestrahlt? Was war „rund und schön“? Was war eckig und hat – jetzt nicht böse gemeint – „angeeckt“? Was ist offen geblieben? Und schließlich: Worum geht es wirklich, wenn Menschen Eucharistie feiern? Um diese Frage geht es in den Punkten 2.1 – 2.6.
1.1 „Willkommen“ bei Mozart
Ich beginne meine Überlegungen mit dem dritten Punkt, mit dem Blick auf das Mozartjahr, auf Mozart und speziell auf die „Krönungsmesse“. Diese Komposition ist wie alles bei Mozart eine Botschaft ohne Worte. Mozart`s Musik ist Trägerin einer bestimmten Lebensart, sie ist ein kostbares Gefäß, Gefäß einer Lebensfreude, Leichtigkeit und Harmonie. Mozart`s Musik kommt an, sie genießt überall auf der Welt höchste Akzeptanz, sie reißt mit, öffnet und erfüllt. Ihr Klang ist für viele eine wahre Freude. Es ist eine Musik, „deren Schönheit uns fast der Worte beraubt“, sagte Kardinal Schönborn. Ob sie auch in sich eine religiöse Qualität besitzt, die, wie Papst Benedikt XVI. einmal meinte, aufzeigen kann, „daß der Glaube wahr ist“, bzw. wie Kardinal Schönborn predigte, daß sie „unserem Fragen…ein Leuchten entgegenstellt, in dem unsere so zerbrechliche Welt plötzlich auf- und hineingehoben wird in einen göttlichen Bereich, in dem alles gut, alles heil, alles geborgen ist“ oder daß sich „für uns in kostbaren Augenblicken ein Fenster zu Dem hin“ öffnet, „in dem alles Bestand hat“ – dies dürfte eher von der religiösen Einstellung des Hörers abhängen als von der Intention des Meisters. Denn Mozart selber, so urteilen Kenner, war besessen von einer einzigen Sache, von der Musik. Alles andere war für ihn zweitrangig, auch die Religion, die Kirche, der Glaube. Als kirchlicher Angestellter mußte er zwar Kompositionen für den Gottesdienst liefern, aber er hätte statt dessen lieber Opern geschrieben. Doch eines stimmt sicher: Mozart war durch und durch geprägt von der damaligen festlichen Heiterkeit der bayerischen und österreichischen Kirchen und deren kindlicher Unbefangenheit in religiösen Dingen bzw. der Selbstverständlichkeit eines Glaubens, der jeden Zweifels enthoben war. Auf jeden Fall aber hat „das vielleicht größte musikalische Genie, das unsere Welt aufzuweisen hat“ (Kardinal Schönborn) diese unsere Welt reich beschenkt. Und jedem Menschen steht heute dieses Geschenk zur Verfügung. Jeder, der Mozart hören will, hat Zugang zu ihm – uneingeschränkt, voraussetzungslos. Und auf der ganzen Welt kennt man Mozart. Die meisten Menschen wissen, was in ihm steckt. Über Konzertsäle und Kirchen, über die modernen Medien ist er jederzeit abrufbar.
Mozart mag menschliche Fehler gehabt haben, er mag arm gestorben sein, in seiner Musik steht er als ein ganz Großer da. Er wird von vielen über alles geliebt und seine Hinterlassenschaft wird auch 250 Jahre nach seinem Geburtstag hingebungsvoll gepflegt: Verehrer und Kritiker wachen darüber, daß jede Musikaufführung am Original Maß nimmt, und Dirigenten, Orchester und Sänger (beim Jubiläum z.B. die Wiener Philharmoniker und die Wiener Sängerknaben) mühen sich, um im Einklang mit Mozart und gut abgestimmt untereinander durch Üben, Üben, Üben dem Genie gerecht zu werden. Höchste Qualität verlangt Liebe und Fleiß. Nur so können Authentizität bewahrt und kompetente Umsetzung sicher gestellt werden.
Mozart strahlt heute noch – 250 Jahre nach seiner Geburt. Und er wird ausgestrahlt – durch eine moderne Technik bis in den letzten Winkel der Erde und bis hinein in meine Wohnung. Am 19. November 2006 ist etwas von Mozart bei mir angekommen – und sicher nicht nur bei mir. Die musikalische Einkleidung der Eucharistiefeier und der Gedächtnisfeier für den Petersdom hat gestimmt. Das Gefäß der Musik Mozart`s hat etwas freigegeben, hat etwas ausgeschüttet: Lebensfreude, Leichtigkeit, Harmonie, „eine Schönheit, die uns der Worte beraubt“ – und für den, der es so sehen kann, „eine Ahnung der Herrlichkeit Gottes“.
1.2 „Willkommen“ bei Bernini und Michelangelo
Ich fahre fort mit dem zweiten Thema, das diesen Gottesdienst geprägt hat. Es war das Gedenken des 500. Jahrestages der Grundsteinlegung des St. Petersdomes, des größten Kirchenbaues der Christenheit. St. Peter in Rom, das bedeutet ein architektonisches und künstlerisches Weltwunder, eine überwältigende Monumentalität, ein ergreifendes und ehrfurchtgebietendes Kunstwerk. St. Peter kündet heute noch von den großen Ideen und Plänen von Papst Julius II. und seinen Nachfolgern. Und St. Peter kündet von der Kunst und dem Können der größten Baumeister und Künstler der Rennaissance und des Barock. Ich nenne nur Namen wie Bramante, Rafael, Michelangelo, Maderno und Bernini. Kardinal Schönborn benützte in seiner Predigt die schönen Bilder eines Gehäuses bzw. eines Gefäßes: Er bezeichnete den Dom als ein „wunderbares Gehäuse über den armen Überresten“ des Hl. Petrus, als ein „kostbares Gefäß um einen armseligen Inhalt“ – und dann aber als ein Gefäß, das „Juwelen“ enthält: Einerseits die Reliquien des Apostels und noch mehr das Messias-Bekenntnis des „glaubwürdigen Zeugen“, und andererseits den Hinweis auf den „herrlichen Bau der Kirche des Himmels“, auf die „ Kostbarkeit des wahren noch unsichtbaren Baues“, auf den der Glanz der Peterskirche hinweisen soll. Ob diese von Kardinal Schönborn dargelegten geistlichen Inhalte Planer, Baumeister und Künstler immer bewegten, weiß ich nicht. Wie weit das „Innere“ dieses Monumentalbaues für den heutigen Menschen sichtbar, hörbar und greifbar wird, hängt meines Erachtens wiederum in erster Linie vom mitgebrachten Glauben der Besucher und Fernsehzuseher ab. Das Zeugnis des Apostels Petrus kann ja auch im Schatten der Kunst der Baumeister und Ausgestalter bleiben.
Trotzdem ist es wahr: Diese Architekten und Künstler haben uns reich beschenkt. Und jedem Menschen dieser Welt stehen diese Geschenke zu Verfügung. Niemandem ist der Zugang zu Architektur und Kunst versperrt – und niemandem der Blick dahinter, der Blick ins „Innere“, der Blick auf die geistlichen Schätze in der Stille und in der Tiefe des Gotteshauses. Und weil St. Peter so etwas Großes ist, gibt es auch heute noch genügend Leute, die diese äußeren und inneren Schätze liebevoll pflegen, Menschen, die über Kunst- und Denkmalspflege hinaus auch auf das geistige Erbe aufpassen und die versuchen, dieses Erbe für die Gegenwart und Zukunft zu bewahren. Auch St. Peter lebt, wie das Erbe Mozart`s, von Erbbewahrern, Verehrern und Liebhabern. Nur so kann die innere und äußere Originalität bewahrt bleiben.
Was an jenem 19. November 2006 die Ausstrahlung der Herrlichkeit des Petersdomes inhaltlich ausgestrahlt hat, wie viele Menschen Kunst und Botschaft innerlich getroffen haben, wie viele ergriffen zugesehen und zugehört haben, weiß ich nicht. Aber vielleicht haben viele auch etwas gespürt von einer Größe, „die uns der Wort beraubt“. Und vielleicht konnten sie über die mediale Präsentation des St. Petersdomes ein kleines Stück Himmel auf Erden wahrnehmen, ein Heimalgefühl abrufen oder für eine gute Botschaft die Ohren öffnen und sich zu ihr bekennen.
„Willkommen“ bei Jesus?
Ich komme zum letzten Programmpunkt, eigentlich zum Basisprogramm: zur Feier der Eucharistie an jenem 19. November.. Für mich ist dieses Ritual Träger einer zentralen Botschaft, nämlich der permanenten Botschaft einer Person, die wir Christen als das größte religiöse Genie der Menschheit bezeichnen. Es ist ein Ritual, das vieles enthält und anbietet. Es ist ein einfaches Mahl, das in seinem Kern auf die geschwisterliche Verbundenheit aller Menschen, auf Anteil nehmen und Anteil geben hinweist. Ein Mahl, das verkünden soll, daß Jesus jedem Menschen zugewandt ist, daß er alle zu Tische lädt, auch die, die sonst niemand einlädt. Dieses Mahl soll einen Jesus darstellen, der der ganzen Welt gehört, allen Menschen ohne Ausnahme.
Während nun aber Mozart`s Musik allen Menschen zur Verfügung steht, zugänglich auch für die, die diese Musik nicht spielen können, und während Bernini`s Bau und Michelangelo`s Kunst für alle – auch für Laien auf dem Gebiet der Architektur und der Kunst – ohne Zugangsbeschränkungen offen stehen, so ist Jesu Mahl heute an Zugangsbedingungen geknüpft. Das heißt: Für bestimmte Menschen ist die Türe verschlossen. Das war am Anfang nicht so. Ein restriktiver Ausschluß scheint heute aber für immer mehr Menschen nicht im Einklang mit Jesus zu sein, d.h. nicht stimmig, nicht abgestimmt mit ihm. Diese Tatsache sorgt auch für viele Unstimmigkeiten unter seinen Anhängern. Viele sehen in der Eucharistie die Intention Jesu nicht mehr authentisch dargestellt bzw. sehen sein ursprüngliches Programm schlecht umgesetzt, ja konterkariert… Ich weiß nicht, welche Ausstrahlung das eucharistische Grundprogramm der Fernsehsendung vom 19. November hatte, wer davon ergriffen wurde, wer das Zeichen verstanden hat, Verbindungen zu suchen, Anteil zu nehmen, Anteil zu geben, miteinander zu teilen – oder wer lieber bei Bernini bzw. Mozart stehen, also beim Augen- oder Ohrenschmaus hängen blieb. Ein tiefes Berührtsein von diesem Mahl mit seiner einfachen Botschaft blieb wahrscheinlich Außenstehenden wieder einmal verwehrt.
Diese Eucharistiefeier hat mich nun motiviert, wieder an ein Thema heranzugehen, das mich schon immer bewegt hat und weiterhin bewegt: Es ist die Frage nach dem authentischen Jesus und dem Verstehen und Umsetzen seines Denkens und Tuns, hier vor allem seiner Mahlpraxis. So habe ich mich wieder ausgibiger mit Texten der Bibel beschäftigt, habe zu verstehen versucht, was sich gut reimt, und nachgesehen, was sich als wirkmächtig und wahr zeigte.. Manchmal war es dann so: Je einfacher diese Texte erschienen, je banaler sie klangen, desto näher waren sie am Leben, desto mächtiger erwiesen sie sich im Laufe der Zeit. Ich habe manche einschlägigen Stellen früher überlesen, ihre Tiefe nicht erspürt, ihre Konsequenzen nicht erfaßt und beachtet. Ganz einfache menschliche Gesten und ein ganz einfaches praktisches Tun des authentischen Jesus wurden für mich aber inzwischen zu Vorbild und Herausforderung.
2 Unscheinbare Schätze aus den Evangelien
2.1 Schlüsselpassagen der Ethik und Einstellung Jesu
Für manche mögen sie banal und monoton, unspektakulär und nicht der Rede wert klingen, für andere eine Idylle oder auch ein Ärgernis darstellen, für mich sind es tragende und herausfordernde Texte und inzwischen auch Schlüsselpassagen der Ethik und Einstellung Jesu, was sich da quer durch die synoptischen Evangelien finden läßt. Ich zitiere einfach einschlägige mich ansprechende Passagen über Jesu Verhalten und Lebensart:
Mk 2,15: „Viele Zöllner und Sünder aßen mit ihm und seinen Jüngern“.
Mt 9,10: „Und als Jesus in seinem Haus beim Essen war, kamen viele Zöllner und Sünder und aßen zusammen mit ihm und seinen Jüngern“ (Gemeint ist das Haus des Zöllners Matthäus).
Lk 7,36: „Jesus ging in das Haus eines Pharisäers, der ihn zum Essen eingeladen hatte“.
Lk 14,1: „Als Jesus an einem Sabbat in das Haus eines führenden Pharisäers zum Essen kam, beobachtete man ihn genau“.
Diese Fakten, die Jesus setzte, waren ungewohnt und aufregend. Und so wird berichtet:
Lk 19,7: „Als die Leute das sahen, empörten sie sich und sagten: Er ist bei einem Sünder eingekehrt“.
Mk 2,16: „Wie kann er zusammen mit Zöllnern und Sündern essen“?
Mt 11,19: „Darauf sagen sie: Dieser Fresser und Säufer, dieser Freund der Zöllner und Sünder“.
Jesu Größe und Souveränität sollte dann auch seine Jünger prägen.
Lk 14,13: „Wenn Du ein Essen gibst, dann lade Arme, Krüppel, Lahme und Blinde ein“!
Alles in allem: Jesu Denken und Handeln geht hier über uraltes soziales und theologisches Denken hinaus, es reißt Zäune ein, wenn er sich „an die Enterbten dieser Welt, an die Menschen am Rand der Gesellschaft, an Prostituierte, Vagabunden, Ausgestoßene, Sündige“ (Milan Machovec) wendet.
2.2 Typisch für Jesus
Die Person Jesu hat viele Akzentsetzungen erfahren. In den frühesten Schichten der Evangelien, wenn man unvoreingenommen und ungeblendet durch Späteres den Synoptikern zuhört, entdeckt man einen frischen, kraftvollen, anregenden und auch herausfordernden Jesus, der ganz selbstverständlich und souverän Akzente setzt, Bilder entwickelt, Umgangsformen etabliert, die Größe, Souveränität, Tiefe, Kraft und Weite atmen. Die oben angeführten Stellen verdienen das Attribut „typisch für Jesus“. Sie zeigen einmal mehr, was er verkraftet – und damit, was Gott verkraftet.
2.3 Der Gott Jesu
Hier sind einige Anmerkungen zum Gottesbild Jesu erlaubt. Das Zentralste und Schönste ist uns in Mt 5,45 überliefert: Gott „läßt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten, und er läßt regnen über Gerechte und Ungerechte“. Das heißt: Gott entzieht keinem Menschen sein Wohlwollen und die Zugehörigkeit zu ihm. Jesu Mahlgemeinschaft mit allen ohne Ausnahme ist nun nur die Einbindung und Umsetzung der universalen Güte und Menschenfreundlichkeit Gottes in den sozialen Raum. Wenn – wie es die Christen glauben – Gott in Jesus seine „menschliche Form“ gefunden hat, dann ist die Ausdehnung der göttlichen Haltung in den sozialen Bereich – wie von Jesus dargestellt und angeboten – nur selbstverständlich. So wird dieser Gott nicht nur im natürlichen, sondern auch im sozialen Raum erfahrbar.
2.4 Das Menschenbild Jesu
Das Menschenbild Jesu ist auf einen einfachen Nenner zu bringen: Alle Menschen sind Jesus „gut genug“ – „gut genug“, um mit ihnen beisammen zu sein, „gut genug“, um mit ihnen zu essen und zu trinken. Von außen betrachtet kann Menschsein oft in eine Schieflage kommen. Armut, Krankheit, Schuld und Schicksale können das ihre dazu beitragen. Manchmal kann auch das Öl in den Lampen ausgehen. Jesus weiß: Etwas ist grundlegend und unaufkündbar: Alle Menschen sind gleich, gleichwertig und ebenbürtig. Wo im Jesusbild die Akzente stimmen, gibt es keine Auserwählten und keine Verdammten. Auch jenseits des eigenen Zaunes gibt es Menschen, über denen die Sonne scheint. Wir alle leben nicht nur von Sonne, Regen und Luft, sondern auch vom Teilen des Brotes und einer grundlegenden Mitmenschlichkeit, die jeden umfasst.Jesus speist nicht nur mit denen, mit denen sonst niemand speist. Er läßt sich auch von einer Sünderin salben (Lk 7,37), er läßt Zöllner und Soldaten zur Taufe zu (Lk 3,12-14), er beruft einen Zöllner (Matthäus) (Mt 9,9) und stellt einen anderen (Zachäus) als Vorbild hin (Siehe Lk 18,13). Jesus braucht sich vor niemandem schützen, er will niemanden loswerden. Er weiß: Wenn nur einer fehlt, dann fehlt dem Ganzen etwas (Dafür steht das Gleichnis von dem einen Schaf und den 99 anderen – siehe Lk 15,1-7). Jesus steht für den grundlegenden und unzerstörbaren Wert des Menschen und für einen Gott, der uns alle verkraftet. Und für diese Wahrheiten setzt Jesus Zeichen.
2.5 Der Auftrag
Jesu Mahlhalten mit allen Menschen ist ein Akt profetischen Ausmaßes. Sein Tun strahlt aus – bzw. sein Tun wird zum Auftrag „Geh hin und handle genauso“ (Lk 10,37). So zu leben bringt schon hier auf Erden gute Früchte: „Du wirst selig sein, denn sie (die Armen, Krüppel, Lahmen und Blinden) können es dir nicht vergelten“ steht bei Lk 14,13. Der Auftrag lautet also: Hereinnahme, Verbinden, Zusammenführen, Sich Zusammensetzen, Zusammenbleiben. Es gibt zu diesem Auftrag schöne Texte in unseren Kirchenliedern: „Was ihr dem geringsten Menschen tut, das habt ihr ihm getan“ (Gotteslob 619), oder: „So nehmet euch eins um das andere an, wie auch der Herr an uns getan“ (Gotteslob 115), bzw. „Wer dies Geheimnis feiert, soll selber sein wie Brot“ (Gotteslob 620).
2.6 Der Mahltypus, für den Jesus steht
Ein Akzent der Erscheinung Jesu ist unbestreitbar: Er ist allen Menschen zugewandt, offen, weit, einladend, herausfordernd und Neues initiierend. Er schaut und wirkt über den eigenen Tellerrand und Gartenzaun, über die eigene religiöse und soziale Gruppe hinaus und bringt Menschen verschiedenster Couleur zusammen. Ein Mahl bietet sich da immer als gute Möglichkeit an, Verbindungen zu Wege zu bringen. Im Laufe der Geschichte wurden viele Formen entwickelt, wie und unter welchen Umständen und Absichten sich Menschen zu einem Mahl treffen bzw. ein Mahl ausrichten. Lebenserhaltung, Beziehungsstiftung und Beziehungspflege, Markierung historischer, sozialer und religiöser Ereignisse, Dankbarkeit gegen Gott und vieles andere mehr können leitende Interessen sein. Orte und Räume, zur Verfügung stehende Mittel, ein akustisches oder visuelles Rahmenprogramm und vor allem die Zusammensetzung der Gäste bzw. Teilnehmer sorgen für viele Differenzierungen. Ich denke: All diese üblichen Formen dürften Jesus nicht fremd gewesen sein. Sie waren nichts Neues und nichts Bahnbrechendes. Neu und bahnbrechend war aber ein anderer Mahltyp: „Wenn Du ein Essen gibst, dann lade Arme, Krüppel, Lahme und Blinde ein“ (Lk 14,13). Dieser Typ war nicht im Angebot der damaligen Zeit: ein Mahl für jedermann, ein Mahl, offen für alle, ein Mahl, wo alle nur Menschen sind, wo alle Unterschiede, Gegensätze und Feindseligkeiten an ihre Grenzen stoßen, wo auch unangenehme Gäste willkommen sind, wo man Gelegenheit bekommt, sich eher zusammenzuraufen, wo man im Gespräch auch einmal Menschen von einer anderen Seite sehen kann, wo vielleicht im Kleinformat das praktiziert wird, was weltweit gelten könnte.
Von allem Mahltypen kommt dieser Typus Jesus sicher am nächsten. Er paßt zu seiner Geistigkeit, die sich in einer späteren Formulierung wiederfindet: „Kommt alle zu mir“. Die Anstößigkeit der Worte spricht ebenfalls für ihre Echtheit. So haben sich alle anderen Mahlformen, die sich auf Jesus berufen, so hat sich alles, was sich sonst noch Schale um Schale um das originelle Mahl mit Jesus gelegt hat, an diesem Grundtypus zu orientieren und zu messen.
Für mich ist dieses „Mahl für alle“ zum einem zentralen „Markenzeichen“ des Gottesreiches geworden, das da ist und dem alle Menschen angehören. Eine universale Gastfreundschaft ist die besondere Qualität dieses Reiches und seiner Ausgestaltung z.B. in einem Mahl, bei dem alle willkommen sind. Wenn man nun davon ausgeht, daß Jesus für diese Art und diesen Inhalt steht, dann kann man davon sprechen, daß uns eine andere Verfügung entzogen ist. Jesus hat dann das Patent, das Urheberrecht, das Copyright. Er führt dann die Regie, er ist das Maß für die Ausführung und konkrete Gestaltung. Er bestimmt die weiteren Spielregeln. „Wir sind nicht die Herren am Tisch des Herrn“, sagt Friedrich Schorlemmer. Das unanfechtbare allgemeine Willkommensein hat alle Ausformungen und Interpretationen zu leiten. Jesu Vermächtnis ist nicht verhandlungsfähig und nicht umzubiegen. Es ist unserer Armlänge und Manipulation entzogen. Und da gibt es kein Zurück und kein Ausweichen.
Wenn von der Legitimität der heutigen Ausführung des Mahles mit Jesus die Rede ist, dann meint Peter Trummer, sie habe sich daran zu messen und begründe sich daraus, wie weit die grenzüberschreitende Mahlgemeinschaft des historischen Jesus mit den Ausgeschlossenen und Sündern auch heute noch verwirklicht werde. Man sieht: Wir werden wieder aufmerksamer und nachdenklicher. Und wir werden wieder elementarer. Und wir erfahren neu: Das Elementare hat Kraft.
3 Die Attraktion dieser Texte und ihr Wert für mich und meine Arbeit
Die Attraktion der oben angeführten Texte und ihrer Thematik und die Beschäftigung damit haben sicher neben den lebensgeschichtlichen Anstößen auch viel mit meinem Beruf zu tun. Ich arbeite mit Menschen – und manchmal brauche ich etwas für mich. Manchmal ist es schwer, Menschen auszuhalten, zu ihnen zu finden, eine gemeinsame Basis zu schaffen. Manchmal ist es schwer, nicht der sich immer wieder aufdrängenden „Außenansicht“ der einen nervenden Mitmenschen zu verfallen. Manchmal ist es nicht einfach, den Klischees von „Gut“ und „Böse“ zu entgehen. Manchmal will man einfach auch jemanden loswerden…
Dann braucht man Texte, daß alle Menschen Gott „gut genug“ sind oder daß sich Jesus mit allen an den Tisch gesetzt hat. In der höheren Dimension des gemeinsamen Menschseins und eines gemeinsamen Grundes, auf dem alle stehen, sind dann viele Schwierigkeiten aufgehoben. Dann fühlt man sich manchmal größer als man vorher von sich gedacht hat. Dann können auch die Menschen, die sich an mich wenden, eher glauben, daß sie mir recht sind, wie sie sind, und sie können mir eher vertrauen, wenn sie ein bißchen spüren, daß wir uns als Menschen gleich sind, so unterschiedlich wir auch sein mögen.
Solche Texte sind auch manchmal eine Hilfe für die Menschen, die meine Hilfe suchen. Sie brauchen mich nicht für ihren materiellen Lebensunterhalt, so schön auch manchmal ein gemeinsames Essen und Trinken wäre. Sie brauchen meist ein Ohr und ein Wort: ein menschliches Ohr und ein fachliches Ohr, ein menschliches Wort und ein fachliches Wort. Und Einsichten und Handlungsangebote. Therapeutische Arbeit ist heute oft die zeitgemäße Variante des Mahles Jesu mit Jedermann. Hier kann immer wieder auch ein passender religiöser Text aufbauen bzw. einen anderen Text in den Schatten stellen, der in Kopf oder Herz sein Unwesen trieb. Und auch mancher Hilfesuchende kann dann größer werden als er bisher von sich gedacht hat. Darüber gibt es im nächsten Absatz noch einiges zu sagen.
4 Die Chance des 19. November 2006 – und nicht nur diese…
4.1 Wie es hätte sein können
Ich komme nochmals zurück auf jenen denkwürdigen 19. November 2006, auf die Eucharistiefeier mit Kardinal Christoph Schönborn in Rom: Mozart strahlte und wurde ausgestrahlt. Der Petersdom strahlte und wurde ausgestrahlt. Und man stelle sich vor, so hätte es auch sein können: Ein Jesus wurde ausgestrahlt, so als gehörte er wie Mozart und St. Peter zum „Kulturerbe“ der ganzen Welt. Ein Kardinal bemühte sich, diesen Jesus aus dem „Gefäß“ eines Mahles freizulegen – eines Mahles, dem Jesus den Stempel aufdrückte und das er klar definierte. Nur um dieses Mahl ging es und um seine Botschaft. Oder noch anders ausgedrückt: um dieses einfache und allgemein verständliche menschliche Grundmuster von höchster Symbolkraft, um diesen unüberholbaren elementaren Ausdruck jesuanischer Geistigkeit im Zeichen. Es war kein Torso, es war Fülle, was hier zu spüren war. Man kann diese Fülle so zusammenfassen:
Hier, bei diesem Mahl – hieß es – ist jeder willkommen. Es gibt keine unerwünschten Gäste. Hier ist alles ein wenig anders. Hier ist etwas zu spüren von einem Gott, der jedem Menschen zugetan ist, der seine Sonne und seinen Regen allen spendet. Hier geht es um Jesu Wort und Wirken, hier wird an seiner Originalität Maß genommen. Hier gibt es ein Basisangebot allgemeiner Menschlichkeit und Geschwisterlichkeit: ein kleines Brot, ein kleines Zeichen von großer Bedeutung und Wirkung, ein Anfangszeichen für ein größeres Miteinander. Für dieses Basisangebot ist jeder gut genug. Hier sagt niemand: „Moment mal“! Hier geht es um Begegnungen, bei denen sich Menschen in die Augen schauen, nicht um kurzsichtige Außenansichten: Begegnungen mit dem Leben, mit diversen Lebenssituationen. Und es geht um gemeinsame Wege und praktische Hilfen für den Alltag, um ein Stück gelebten Lebens miteinander und füreinander. Und hier ist ein Haus – Vorbild und Beispiel für ähnliche Häuser auf der ganzen Welt – in dem ein Tisch für alle steht: ein Tisch, an dem geteilt wird und von wo aus sich Teilen, Anteil nehmen und Anteil geben fortsetzt.
Man stelle sich vor: Das war die „Musik“ Jesu, die am 19. November 2006 aus dem Petersdom erklang – eine „Musik“, die von der Musik Mozart`s würdevoll eingekleidet war. Und man stelle sich vor: Das war der geistige „Hausbau“ Jesu, der vom Bauwerk des Petersdomes majestätisch eingerahmt war. Und diese „Musik“ Jesu und sein geistiges „Haus“ wurden mit den Beigaben von Mozart und Bernini in die Welt hinausgestrahlt und einer zusehenden und zuhörenden Öffentlichkeit – und nicht bloßen einigen Tausend Gottesdienstbesuchern – vermittelt. Nur – es war nicht so! Es durfte nicht so sein. Oder vielleicht besser: Es durfte noch nicht so sein.
4.2 Was zum Nach-denken und Weiter-denken bleibt…
Ich komme auch nochmals zurück auf meine eingangs erwähnten Jugenderlebnisse. Ich fasse es heute immer noch als ein großes Glück auf, diese Eucharistiefeier in Paris und diesen Eucharistischen Weltkongress in München erlebt zu haben. Ich sehe beides als eine bedeutende und prägende Horizonterweiterung an. Ich wußte auf einmal, wie Eucharistie verbinden konnte, ich erlebte eine faszinierende Geschwisterlichkeit – wenn auch damals noch innerhalb eines ganz klar abgesteckten kirchlichen Raumes.
Der Lauf des Lebens, berufliche Entwicklungen, Abschiede und Neuanfänge führten dann zu einer neuen Entgrenzung meines Denkens und dessen Umsetzung. Es ging, wenn ich es zurückhaltend sagen will, in die Richtung einer uneingeschränkten Geschwisterlichkeit aller Menschen. Es war ein Mentalitätswechsel, den man mit dem vergleichen kann, was der spanische Jesuit Carlos Gonzales Valles in seinem Buch „Fang den Regenbogen“ so treffend dargestellt hat. Ich zitiere Valles, den sein Orden 1949 nach Indien schickte:
„Ich kam von Spanien nach Indien, aus einer christlichen in eine hinduistische Umwelt, aus einer sicheren Welt in eine offene, in der sich alle Mentalitäten und Ideologien trafen. Der erste Schock war groß. Damals war es noch Lehre der Kirche, …daß außerhalb der Kirche kein Heil sei. So wurde uns mit aller Eindringlichkeit gelehrt, daß Erlösung für Nichtchristen fast unmöglich war… Ich war ein Kind meiner Zeit und glaubte fest, ohne Zweifel und ohne Fragen, daß die meisten Nichtchristen auf ewig in die Hölle kämen. Das im behüteten Spanien zu glauben, zu einer Zeit, als jeder katholisch war und durch rechtzeitige Reue die Erlösung erlangen konnte, ganz egal wie sehr er gesündigt hatte, war jedoch etwas ganz anderes als es in Indien zu glauben, mitten unter Hindus, Muslims und Sikhs. Sie mußte ich, während ich sie lächelnd begrüßte und mich mit ihnen freundlich unterhielt, im Geiste auf ewig in der Hölle sehen… Es klingt heute lächerlich, aber damals überschattete und begrenzte die religiöse Lehre wirklich häufig die zwischenmenschlichen Beziehungen. Hier brachte mir das Zweite Vatikanum später eine große Erleichterung“.
Auch mich brachte meine berufliche Entwicklung zu einer neuen Offenheit und Weite. Ich war schon immer mit Menschen verschiedenster Couleur zusammengekommen, aber im therapeutischen Raum mußte ich Menschenliebe neu definieren. Mein großer Lehrer Bert Hellinger war mir hier Vorbild und Herausforderung zugleich. Man beachte nur jedes Wort seiner Darstellung, was für ihn Menschenliebe bedeutet: „Menschenliebe heißt“, sagt er, „daß ich die Menschen liebe, wie sie sind, daß ich mich über sie freue, wie sie sind, daß ich mich als ihnen gleich erkenne und jeden in seiner Einzigartigkeit liebe, ohne den Wunsch, daß er anders ist, als er ist“. Solche Worte bedeuten zunächst, einen Reinigungsprozess auf sich zu nehmen, von einer engen Liebe zu einer weiten voran zu schreiten, von der Außenansicht eines Menschen zu einer Sicht, wie er ist, mit seinem Schicksal, wie es ist, eingebunden in seine Familie und in die Schicksale seiner Familie – und voran zu schreiten zu einer Sicht, wo nur das Wesentliche und Letzte übrigbleibt: „Wir sind allen anderen Menschen gleich“, „ich bin wie du“ und „du bist wie ich“. Hier beginnen dann auch die Unterscheidungen von Gut und Böse zu schwanken. Eine solche Reinigung führt aber zu neuem Wachstum: Wir werden dabei nicht schwächer, sondern stärker, nicht weniger, sondern mehr, nicht ärmer, sondern reicher.
Diese höhere Ebene versucht Hellinger immer wieder auch in der Weise zu vermitteln, daß er einen Satz Jesu aus der Bergpredigt vorlegt, wo Gott seine Sonne scheinen läßt über Bösen und Guten und seinen Regen fallen läßt auf Gerechte und Ungerechte gleichermaßen. Ich zitiere nochmals Hellinger: „Wer diese Liebe erreicht“, schreibt er, „der scheint wie die Sonne auf alle, wie sie sind, obwohl sie verschieden sind… Und er läßt Regen fallen, das, was Segen bringt, auf jeden, wie er ist“. Und dann definiert er nochmals Liebe: „Liebe heißt: Ich anerkenne, daß alle, wie sie sind, mir vor etwas Größerem gleichen… Das ist Liebe. Auf dieser Grundlage kann sich alles entfalten.“ Hier ist dann auch niemand Gott wohlgefälliger und näher als es die anderen sind.
Meine Berufsausübung ist eine tägliche Einübung in diese Geistigkeit. „Ich bin wie Du“, das soll gelten, wenn vor mir ein Mann sitzt, der Frau und Kinder im Stich ließ, oder eine Oma, die vor Jahren ein Kind abtrieb und jetzt ihre jüngst geborene Enkelin nicht anschauen kann, oder dieser alkoholabhängige Jugendliche usw. Aber diese Herausforderung ist in Ordnung. Man sieht sie ja auch durch den authentischen Jesus gedeckt. Und es ist eigentlich sonderbar: Wenn man sich nur ein wenig auf diese Geistigkeit einläßt, dann findet man auf einmal die Stellen in der Bibel, die den gleichen Geist atmen (siehe Kap. 2).
Ich stelle hier meine Erfahrungen, Entdeckungen und Herausforderungen zur Verfügung.
Ich bin vielen Menschen tief verbunden, die sich professionell und spirituell der Nachfolge Jesu verpflichtet fühlen und etwa im Bereich der Seelsorge Hervorragendes leisten – und die immer wieder auch an der Engführung der Geistigkeit Jesu und an den Korrekturen seines Mahles leiden. Ein Original korrigiert man eigentlich nicht. Ein Original schützt man und tut alles, damit die „Aufführung“ gelingt und über den Raum und den Tag hinaus wirken kann…
Mir begegnen in meiner Arbeit immer wieder auch Menschen, die gerne am Mahl Jesu teilnehmen möchten und sich nicht trauen, ich kenne genügend „Mühselige und Beladene“ dieser Art. Sie sollen wissen: Jesus ist hier der Gastgeber. Nur er hat hier etwas zu sagen. Auch sie dürfen ohne Furcht und Zittern dieses Mahl für sich reklamieren. Sie dürfen teilnehmen „mit gutem Gewissen, mit einem in Jesus verankerten Vertrauen“, wie es Friedrich Schorlemmer ausdrückte. Nicht jeder wird aber den Mut dazu aufbringen. Es ist sehr schwer, irgendwo hinzugehen, wo man manchem nicht willkommen ist. Man darf sich allerdings auch hier beruhigen: Alle, wie sie auch immer heißen, die sich auf Jesus berufen, müssen jedem Menschen zugetan sein, müssen jeden Menschen aushalten, müssen sich auch mit denen an einen Tisch setzen, mit denen sonst niemand ißt. Wer sich aber von den „Mühseligen und Beladenen“ dennoch schwer tut, kann auch aus seiner schwierigen Situation heraus von einem Glauben Zeugnis geben, der weiß: Gott bin ich auf jeden Fall willkommen. Nur eine „Falle“ gilt es hier wahrzunehmen: Man darf selber niemanden ausschließen…
Ich sehe dann auch die, bei denen das Mahl Jesu jede Strahlkraft verloren hat und die darauf – aus welchem Grund auch immer – verzichten können, die aber die Ausstrahlung des Profeten aus Nazareth bewußt oder unbewußt, aber der Intention nach, auf vielfache Weise zur Kenntnis nehmen und zur Geltung bringen, die oft auch – ohne jesuanische oder kirchliche Rückbindung – über allen Menschen die Sonne scheinen lassen und zeitgemäße Varianten seiner Geistigkeit und der praktischen Umsetzung „auf den Tisch“ bringen. Es muß nicht immer das traditionelle Mahl sein. Ich denke hier auch an viele meiner Kolleginnen und Kollegen im therapeutischen Raum, bei denen ich vieles aus der Lebenskonzeption Jesu vorfinden kann: Zuwendung, Geschwisterlichkeit und oft ein sagenhaftes Engagement. Und ich denke an Menschen, die ihre ganze Kraft dem sozialen Miteinander oder der Bewahrung der Schöpfung widmen. Der Geist des Mahles Jesu weht auch ohne ein Mahl.
Und ich sehe noch eine vierte Gruppe, Menschen, denen Jesus und eine Gesinnung in der Art Jesu total fremd geworden sind, Menschen ohne Hoffnung, in einem unerträglichen Umfeld, ohne Zugang zu Mitmenschen, Leidende, Geschundene, Verzweifelte usw. Ich vermute, sie könnten über Repräsentanten der Gesinnung Jesu doch wieder Licht am Horizont erblicken.
5 Résumé
Es ging mir bei meinen Überlegungen und Darlegungen darum, eine Geistigkeit zu reflektieren, einen Raum offen zu halten und einen „Tisch“ zu decken mit dem Prädikat „typisch für Jesus“. Und es ging mir darum – wo es nötig erscheint -, Mut zu machen, nicht an einer gängigen Ideologie oder Praxis zu scheitern, sondern Jesusuntypisches an sich selbst, an seiner eigenen Person scheitern zu lassen – entsprechend dem großen Vorbild, das auch Gottwidriges und Menschenentwürdigendes an sich scheitern ließ.
Der Geist Jesu in Wort und Tat ruft immer wieder nach Einlösung. Wir leben sicher von Größen wie Mozart und Michelangelo, aber noch mehr von Vorbildern und einer Praxis, wo jeder Mensch erfahren kann, daß Gott ihm zugewandt und er willkommen ist – und daß es schon hier und jetzt den Anfang einer Welt gibt, „in der alles gut, alles heil, alles geborgen ist“.
Hinweis auf einen wichtigen Artikel:
In der Fachzeitschrift „praxis der systemaufstellung“ 1/2012 Seite 19-25 habe ich einen Artikel mit der Überschrift „Auserwählt? Nein, das bist du nicht! – Leben antasten? Nein, das tu ich nicht!“ veröffentlicht. Dieser Aufsatz befasst sich im Anschluß an eine Aufstellung während eines Moskauer Therapeutenkongresses mit der Abrahams-Problematik. „praxis der systemaufstellung“ wird von der Deutschen Gesellschaft für Systemaufstellungen herausgegeben und über den Carl-Auer Verlag Heidelberg vertrieben.