Israel und die Aussichten auf Frieden

Israel und die Aussichten auf Frieden

02.11.2024

Ich suche einen Zugang zur Tragik Israels

Vor ein paar Tagen war die jährliche Zeitumstellung. Die Sommerzeit war zu Ende. Ich habe meine Uhren neu eingestellt und werde mit der neuen Zeit, so Gott will, fünf Monate leben. Doch was für eine Zeit erwartet mich?  Eine kriegerische, eine mörderische, eine sich konstant ausweitende Tragödie, eine scheinbar ungebremste Fahrt in den Abgrund?

Morgen ist Sonntag, Sonntag ist immer wieder eine Zeit, meine Lebenseinstellung zu überprüfen und über den Alltag hinaus über Gott und die Welt nachzudenken. Heute kann ich nicht über den Krieg im Nahen Osten hinwegsehen. Hier prallen, was heute mein Thema ist, Einstellungen aufeinander, denen ich nachgehen will. Die ganze Welt ist in ein Geschehen einbezogen, ist mitgerissen, ist gespalten, eifert mit, leidet mit.

Ein Kern der Tragik besteht meines Erachtens darin: Jede Partei fühlt sich im Recht, nur ist dieses „Rechtsgefühl“ davon abhängig, wo die einzelne Partei in die Thematik einsteigt. Gewöhnlich dort, wo sie sich unschuldig behandelt fühlt und nicht, wo sie selbst schuldig handelt. Ausgeklammert wird vor allem der Blick auf den Anfang, der Blick dorthin, wo das schuldige Handeln angefangen hat, das heißt, wo und wann die Misere losging – und was dann zu einer teuflischen Reihe, zu einem dramatischen Selbstläufer wurde, wo es am Ende nur noch Schlag auf Schlag und Schlag auf Gegenschlag geben konnte, und wo die jeweils einem Schlag folgenden amtlichen Reaktionen beider Seiten austauschbar wurden.

Ich suche einen Zugang zu dem scheinbar endlosen Drama. Ich stelle mich wieder einmal auf meine religiösen Hinterfüße, weil ja hier wieder Religion im Spiel ist, und frage nach, ob Religion nichts Besseres anzubieten hat, als dass man sich in ihrem Namen die Köpfe einschlägt. Denn um Religion, wen auch in einer unbefragten Form, um religiöses Gedankengut, um religiöse Einstellungen und Selbstfesselungen, und letztlich zentral um die Rückführung von Menschlich-Politischen auf Gott geht es hier, dreht sich hier alles. Mit pervertierter Religion hat meines Erachtens alles angefangen. Und mit aus dem Ruder gelaufener Religion ging es weiter – bis heute!

Dazu noch einmal meine Frage: Hat Religion nichts Besseres anzubieten, als sich die Köpfe einzuschlagen?

Ja, sie hat! Sie hat Besseres zu bieten! Und damit fange ich an – und lade meine Leserinnen und Leser zum Nach-Denken meiner Gedanken ein.

Wie die Uhr auch ticken kann!

Ich bin ein durch und durch religiöser Mensch. In der Tiefe meiner Religion, umgeben und zugedeckt von so viel Gewirr und Geschwätz liegt für mich wie eine kostbare Perle das Kernstück, das Herzstück von Religion. Es ist formuliert von meinem Vorbild Jesus von Nazareth, es stammt aus seinem Mund, es ist ihm voll und ganz zuzurechnen. Innerhalb der Bergpredigt ist es uns überliefert. Es steht in Mt 5, 44-45. 

Jesus hat, wenn Sie die Stelle nachlesen, mit wenigen Worten eine imponierende Weltsicht propagiert und eine Lebenseinstellung vorgestellt, die für mich in ihrer Kürze und Bündigkeit die Höchstform der religiösen Vorgaben für ein gelingendes Leben auf unserer Welt darstellt. Ich mache kein Hehl daraus, dass ich mich zu dieser jesuanischen Denkwelt und zu ihren Ableitungen bekenne und dass ich von dieser jesuanischen „Verfassung“ her andere im religiösen Bereich auftretende Fassungen überaus kritisch betrachte. Bildlich gesprochen habe ich also meine Uhr, wie ich ticke und ticken will, auf ein ganz bestimmtes religiöses Programm eingestellt, auf ein Wort Jesu in zwei Sätzen, uns erhalten geblieben, wie gesagt, in Mt 5,44-45.

Was hat Jesus hier gesagt? Was sehe ich als „Grundverfassung“ für glaubende Menschen in ihren jeweiligen Lebenswelten an?

Ich sehe es so: Innerhalb der Glaubensformen, die mit der Chiffre, mit dem Begriff Gott, modern mit dem God-Term, arbeiten, die mit einem persönlichen Gott die gefühlte Lücke ihres Lebens schließen, hat uns Jesus einst seinen Gott vorgestellt und die Vorstellung von Gott, also „seinen Namen“, sein Bild und sein Wirken und Wollen wie folgt gefüllt:

Formal sehr dezent, einfach, klar, sparsam, unspektakulär, unauffällig, fast zwischen den Zeilen und inhaltlich so zentriert und so herzlich menschlich und persönlich, wenn er Gott „Vater“ nennt, „Abba“. „lieber Vater“, (heute Vater und Mutter). „Abba“, das ist ein emotional hochgeladenes Wort, das dem innersten menschlichen Beziehungsbereich entnommen ist, das ist ein Bild, das eine tiefe von Gott ausgehende Nähe zum Menschen bezeugt und uns in die Gefühle dieses Gottes blicken lässt.

Jesus lässt es bei diesem Bild des „Abba“. Er redet es über weitere Bilder nicht flach. Amüsant kann man hinzufügen: Recht viel mehr ist Jesus zu Gott nicht eingefallen, recht viel mehr war über ihn nicht zu sagen. Hier ist uns von Jesus ein einfacher, ein guter, ein brauchbarer, ein liebender, ein „lieber Gott“ angeboten, Und wir Menschen haben hier einen Maßstab, welche Gottesbilder bei dieser „Abba“-Vorgabe Jesus nie in den Kopf gegangen oder aus seinem Mund gekommen wären!

Mehr wie oben sagt also Jesus über den in der Menschheitsgeschichte und in jedem Menschen Gespürten, aber Unsichtbaren, Unfassbaren, Unsagbaren nicht aus. Sparsam und treffend hat er hier Gottes Namen gefüllt – ein einziges warmes Wort hat genügt.

Zu diesem zentralen Bild von Gott kommen dann weitere besondere Sichtweisen Gottes auf uns Menschen hinzu, die Gott nochmals ein gutes Zeugnis ausstellen. So schreibt Jesus kurz und bündig seinem Gott Aspekte zu, die für mich die Höchstform religiöser Zuschreibung an seine Geschöpfe sind und die – wenn vom Menschen übernommen – die Höchstform einer religiösen Lebenseinstellung anschieben.

Schauen wir uns jetzt die menschenbezogenen Sichtweisen und Ableitungen vom Wort „Abba“ an. Drei Wahrheiten bietet uns Jesus an:

Erstens: „Abba“ ist ein Liebender, einer, der liebt und der Lieben möglich macht, der dem Menschen Lieben zumutet, der den Menschen zum Lieben drängt, der ihn zum Lieben auffordert, der Letztes will, dazu herausfordert, daraufhin drängt, es uns zumutet und es uns möglich macht. Das bedeutet, letztlich auch den Feind zu lieben. Gott liebt alle Menschen. „Werdet so wie er!“, „Werdet so wie Gott, wie euer „Abba“! Jesus legt uns dies nicht nur nahe, er fordert es direkt in dem Sinn: „Ihr könnt gar nicht anders!“

Zweitens: In Mt 5,44-45 taucht die glänzende Idee auf; Vor diesem Gott Jesu sind alle Menschen gleich. Wer gut lesen kann, erfährt: Es gibt keine Auserwählten, keine Bevorzugten, keine Lieblingskinder und keine Wegwerfkinder. Es gibt auch kein Gottesvolk.  Alle Menschen sind Kinder Gottes und grundsätzlich gleich vor Gott: Böse, Gute, Gerechte, Ungerechte, Nahe, Ferne, Freunde, Fremde. Für Jesus liegen die Gegensätze zwischen solchen und solchen nicht so weit auseinander, Für ihn sind die Guten auch böse, wenn sie einem Bösen böse sind. Jesus macht auch kein Reich des Bösen ausfindig, dem ein Reich des Guten gegenübersteht. Er entkrampft die ganze Debatte und schiebt hässlichen Konfrontationen den Riegel vor: Gleichheit heißt der Grundsatz. Welche glänzende Idee für ein menschliches Miteinander und eine gelingende Humanität. Mit diesen Vorgaben gut umzugehen ist jetzt Sache menschlicher Vernunft. Damit müssen die Menschen zurechtkommen.

Drittens: Eine weitere glänzende Idee unserer Bibelstelle besteht darin, dass Jesus davon ausgeht, dass die irdischen Gegebenheiten allen Menschen gegeben sind, dass nach Gottes Willen alle Menschen grundsätzlich unter gleichen Bedingungen leben sollen, dass alle grundsätzliche den gleichen Zugriff zu den Lebensgütern haben, dass die irdischen Güter für alle da sind. Jesus nennt Sonne und Regen, die allen gleich geschenkt sind, und ebenso in dieser Logik Luft und Wasser, Land und Meer, auch Land und Boden. Für alle ist die Erde da. Gott teilt nichts zu, grenzt nichts für die einen ein und schließt die anderen aus. Zuteilung und Gebrauch sind klare Sachen menschlicher Vernunft.

Was hat er nun genau gesagt?

Zum Schluss zitiere ich, was Jesus genau gesagt hat, Bei Mt 5,44-45 steht es: „Ich aber sage euch: Liebt euere Feinde und betet für die, die euch verfolgen, damit ihr Söhne eueres Vaters im Himmel werdet; denn er lässt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten, und er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.“

So tickt also Gottes Uhr, so tickt Jesu Uhr, so sollen Menschen ihre Uhren einstellen und untereinander abgleichen. Alles dreht sich um Einstellungen!

Wo Uhren jesuswidrig ticken

Nicht alle Uhren ticken gleich, nicht alle ticken, wie Gott es will, wie Jesus es meint. Die Problembereiche, die ich hier angehe, betreffen von Jesus herkommend und Israel ansprechend die Gleichheit aller Menschen und die Verfügbarkeit der Erdengüter für alle. Im Sinn Jesu will Gott, dass alle Menschen gleich sind, die gleiche Würde besitzen und dass die irdischen Gegebenheiten allen Menschen in gleicher Weise gegeben sind. Alle sollen unter gleichen Bedingungen leben und gleichermaßen Zugriff auf alles haben.   

Unübersehbar sind nun auch im religiösen Geschäft andere Maßstäbe, andere Definitionen und Zuschreibungen aufgetreten, die die Sache anders sehen als Jesus in Mt 5,44-45. Es sind Vorgaben, die die Uhren anders ticken lassen, die die Gottesvorgaben „Gleichheit “ und „Erdengüter uneingeschränkt für alle“ ignorieren und erfahrungsgesättigt ewige Konfrontationen auslösen.

Und das Folgende gehört jetzt meines Erachtens leider zur Tragik Israels: Auf dem Boden dieses Volkes und dieses Landes ist ein Narrativ, ist eine Erzählung des Inhalts entstanden, dass Gott sich geoffenbart hat, dass er aus seiner Verborgenheit herausgetreten ist, und dass er, für die einen eine interessante, für andere aber eine wenig erfreuliche Idee in die Welt gebracht hat, dass Israel sein auserwähltes, sein besonderes, sein ihm besonders nahes Volk sei und dass zu seinem Volk für alle Zeiten ein bestimmtes Land gehöre und dass andere dort nichts zu suchen hätten.

Das heißt im Klartext: Gott selbst, so ist die Sage, hat ein politisches System begründet, einen richtigen Gottesstaat, mit einem auserwählten Gottesvolk und mit einem definiertem Gottesland. Die Jahrhunderte alte Tragik ist nun diese: Aus dieser religiösen Bestimmung und Zuweisung ihres Gottes ist Israel nicht mehr herausgekommen. Bis zum heutigen Tag nicht. Über dieses Narrativ ist etwas losgetreten worden, was bis heute nicht zum Stillstand gekommen ist. Die Nachwirkung des Ursprungs reicht bis heute. Die Nachhaltigkeitsprüfung dieses Narratives ist erschreckend, wenn man die entstandenen Einstellungen und Gegenreaktionen sieht, die dieses Projekt hervorgebracht hat. Wenn es eine Stiftung Warentest für theologische, anthropologische und politologische Fragen gäbe, dieser Gotteseingriff, die darin enthaltene Theologie, der daraus folgende „Humanismus“ sowie die weiteren Dotierungen durch Gott würden glatt durchfallen. Einem Gott Jesu würde Ähnliches nie und nimmer einfallen. Aber Israel definiert sich immer noch mythologisch.

Der Fluch der Ideologie: Positionen und Gegenpositionen

Der Theologe und Therapeut Manfred Hanglberger hat dazu schon vor einigen Jahren folgenden Aufsatz verfasst, den ich in Auszügen zitiere:

„… das Problem ist, dass viele Menschen in Israel auch heute noch glauben, dass Gott ihnen das Land tatsächlich gegeben habe, und vor allem die strenggläubigen Juden sind überzeugt, dass sie nicht nur das Recht, sondern die Pflicht haben, alle anderen Völker und Religionen aus dem Land zu vertreiben, um das Land im Auftrag Gottes in Besitz zu nehmen. Gott selbst, so der biblische Text, hat ein politisches System begründet, einen „Gottesstaat“ mit einem „auserwählten Gottesvolk“. Deshalb definieren die Ultra-Konservativen in Israel, die wegen ihrer großen Kinderzahl immer zahlreicher werden und immer größeren Einfluss auf die Politik des israelischen Staates nehmen, … immer noch nach grausamen Bibelerzählungen:

Beispiele:

Dtn 7,1-2:

Wenn der Herr, Dein Gott, dich in das Land geführt hat, in das du jetzt hineinziehst, um es in Besitz zu nehmen, wenn er dir viele Völker aus dem Weg räumt, … die zahlreicher und mächtiger sind als du, wenn der Herr, die Gott sie dir ausliefert, und du sie schlägst, dann sollst du sie der Vernichtung weihen. Du sollst keinen Vertrag mit ihnen schließen, sie nicht verschonen…

Dtn 9,3:

So sollst du nun heute wisssen, dass der Herr, dein Gott, wie ein verzehrendes Feuer selbst vor dir herzieht. Er wird sie (die Amalekiter) vernichten, und er wird sie dir unterwerfen, so dass du sie unverzüglich vertreiben und austilgen kannst, wie es der Herr dir zugesagt hat.

1 Sam 15,1ff:

So spricht der Herr der Heere: .. Ziehe jetzt in den Kampf und schlag Amalek (die Amalekiter). Weihe alles, was ihm gehört, dem Untergang. Schone es nicht, sondern töte Männer und Frauen, Kinder und Säuglinge, Rinder und Schafe, Kamele und Esel.

Hanglberger fährt fort: Deshalb nehmen diese strenggläubigen Juden den Arabern im Westjordan-Land deren Grundbesitz einfach weg und bauen dort ihre Siedlungen. Ist es verwunderlich, wenn wegen dieses Unrechts diese Araber in vielen Ländern der Welt Solidarität erleben.

Hanglberger bringt dann als Gegenposition Beispiele aus dem „Heiligen Buch“ des Islam, dem Koran. Israel hat sich ideologisch in Stellung gebracht, hat sich ideologisch vergraben, der Islam hat später darauf geantwortet und sich ebenfalls in Stellung gebracht. Aus ideologischen Erdlöchern sind heute beiderseits reale Erdlöcher entstanden, Tunnels, Bunker, Schützengräben usw. Es wird nicht mehr nur ideologisch gefeuert. Israel ist zum Friedhof geworden.

Von den Beispielen, die Hanglberger als Stellungnahme des Islam anführt, zitiere ich zwei besonders erschreckende, die in der heutigen Auseinandersetzung im Nahen Osten ihre Fortsetzung finden.

Sure 47,5?

Wenn ihr im Krieg mit den Ungläubigen zusammentrefft, dann schlagt ihnen die Köpfe ab, bis ihr eine große Niederlage unter ihnen angerichtet habt… Die für Allahs Religion kämpfen, deren Werke werden nicht verloren sein.

Sure 49,16:

Die wahren Gläubigen sind die, welche an Allah und seinen Gesandten glauben, ohne noch zu zweifeln und mit Gut und Blut für die Religion Allahs kämpfen.

Hangberger resümiert: Deshalb ist die Grausamkeit der Hamas nicht nur Ausdruck ihrer solidarischen Wut gegen das Unrecht, das ihren Glaubensbrüdern im Westjordanland angetan wird, sondern auch ein von der Religion im Koran gefordertes Verhalten.

Um also Frieden im sogenannten „Heiligen Land“ zu schaffen, müsste sich eine historisch kritische Sicht der „Heiligen Schriften“, also des Tanach und es Koran durchsetzen. Erst wenn man erkennt, in welchen Konfliktsituationen diese Texte vor sehr langer Zeit entstanden sind und welche Bedeutung diese Texte damals hatten, wird man erkennen, dass diese Texte heute nicht mehr gültig sind, schon gar nicht als politische Handlungsanweisungen für unsere Zeit.

Zudem ist zu fragen, warum Menschen in unserer Zeit für persönliche und gesellschaftspolitische Probleme nicht psychologische, soziologische und politologische Erkenntnisse unserer Zeit bedenken, sondern in uralten Texten glauben, Lösungsangebote, die Gott uns gegeben hat, finden zu können. Hier geht es um den Zusammenhang von zeitgemäßer Spiritualität und zeitgemäßer Rationalität, also um die Formulierung einer Glaubenslehre, die im Dialog mit den Erkenntnissen der Psychologie, der Soziologie und der Politologie entwickelt wurde und eine ständige Erneuerung erfährt – entsprechend dem Fortschritt dieser Wissenschaften.

Soweit Manfred Hanglberger.

Der Staat Israel ist eine Fehlkonstruktion

Egal wie man die Entstehung des Staates Israel nach dem 2. Weltkrieg beurteilt (Niemand hat geahnt, was das neue Israel Juden und Palästinensern kostet), der neue Staat hat es damals versäumt, sich von seinen mythologischen Grundlagen und einer rassistischen Ideologie zu trennen, und es verpasst, ein ganz normaler Staat zu werden. Ein demokratischer Staat schaut anders aus. Er ist nichts Besonderes. er ist ein gewöhnlicher Staat unter Staaten. Er hat vor allem eine Verfassung. Israel hat keine, In Israel bestimmen die Ultras und der Rest nimmt dies weitgehend hin. Die Ultras geben den Ton an: Wir sind etwas Besonderes. Wir sind Auserwählte. Wir sind Gottes Volk. Wir haben Anspruch auf ein Land. Noch dieser Tage ist es widerspruchslos erklungen: „Das Westjordanland ist Teil des historischen jüdischen Kernlandes“. Dieser Anspruch ist 2700 Jahre alt und gilt für die Ultras ewig. Er besteht ja auf einer Zusage Gottes. Auch wenn manche Israeli heute erkennen: Wir haben eine grausame Geschichte. Wir gehen aber von unserem Mythos nicht ab. 1945 haben wir unsere Chance ergriffen, haben unseren Mythos wieder Wirklichkeit werden lassen. Wir lassen uns durch nichts mehr abhalten, dieses Land an uns zu reißen, zu halten und zu verteidigen. Wir stehen sogar bereit und tun alles, um uns auszuweiten. Wir lassen uns von niemandem etwas dreinreden, auch von der Schutzmacht USA nicht mehr. Wir lassen uns auch von ihr nicht besänftigen und bändigen. Bevor uns jemand vernichtet… Mir graust. Ich schreibe nicht mehr weiter.

Israel hat es versäumt, was Realisten und Politologen längst erkannt haben: Menschlich-Politisches auf Gott zurückzuführen ist brandgefährlich. Israel muss langsam wissen: Die Welt schaut auf uns. Und was sieht sie: Ein System voller Konstruktionsfehler: Ein sogenannter demokratischer Staat Israel ist nur eine leere Hülse. Er ist ohne Grundgesetz. Die Lücke auszufüllen ist den Ultras zugestanden. Der Staat im Staat – das sind die Ultras. Fast ungebremst üben sie ihre Macht aus, besetzen die Strukturen, überrollen das Westjordanland und stehen an der Grenze zum Gazastreifen einmarschbereit. Keine innere und äußere Macht stellt sich in den Weg. Realisten werden vorgeführt, Die Lage ist brandgefährlich und ein Dauerbrenner. Schrecklich, was Israel weiterhin eint: Gott und die Feinde!

Ein politisches Gebäude ist extrem belastet. Peinlich ist seine mythologische Begründung, peinlich ist seine Theologie, seine Anthropologie, peinlich seine Ultras. Peinlich auch, wie das Christentum sich immer noch als neues Israel sieht und Ideengut und Strukturen übernommen hat. Peinlich auch, wie noch vor kurzem die Evangelische Kirche des Rheinlandes betonte: „Die Errichtung des Staates Israel ist ein Zeichen der Treue Gottes gegenüber seinem Volk“-

Schlussworte aus der Tiefe

Bei dem Thema, das mich so bewegt, bei diesem Morden und Zerstören im Nahen Osten geht es um Einstellungen. Je nachdem, an welchem Ort und zu welcher Zeit man in die Debatte einsteigt, ändert sich die Sichtweise, ändert sich das Für und das Dagegen. Mein Beitrag hat nun das Thema grundsätzlich, an den Wurzeln angepackt. Meine Einstellung beruht auf einer Sichtweise, die immer mehr Menschen teilen und die sich in Grundsätzen zusammenfassen lässt, die so lauten:

Der Mensch befindet sich unentrinnbar im Hoheitsgebiet der Schöpfung, bzw. der Evolution.

Daraus ergeben sich grundsätzliche Hoheitsaussagen, insbesondere diese drei Grundsätze, die evaluierbar sind und die ganz besonders auch von Jesus untermauert werden:

  • Alle Menschen sind gleich.
  • Das Gut der Erde ist für alle da.
  • Wenn oder wo von Gott gesprochen wird, ist dieser Gott ein Gott für alle. 

Ich weiß, dass jetzt vieles ins Wackeln kommt, wenn die Geschichte Israels unter diesen fundamentalen Gesichtspunkten auf den Prüfstand kommt, wenn der Bruch mit den genannten Hoheitsaussagen deutlich gemacht wird. Ich sage es in aller Klarheit und mit allem Nachdruck: Ich mag einfach einen Gott nicht, der parteiisch ist, der erwählt und verwirft, der Land verteilt, der sich benützen lässt, der dem Gott Jesu widerspricht und diesem Abba-Gott zuwiderhandelt. Das ist nicht mein Gottesbild. Und mir schwebt auch kein Menschenbild vor, das Bessere und Schlechtere kennt, das mit der grundsätzlichen Gleichheit mit Völkern und Menschen bricht, wo Solidarität zum Fremdwort wird. Das ist nicht mein Menschenbild. Und ich mag kein Weltbild, kein Bild der irdischen Wirklichkeiten, wo allen Zugedachtes individuell vereinnahmt und als ewiges Eigentum von Menschen und Völkern angesehen wird, wie sich etwa Israel als ewiger Eigentümer eines jüdischen Kernlandes versteht und dieses Verständnis mit Gottes Zuspruch und mit Ideologie und Waffen  untermauert, Das ist nicht mein Weltbild. Schade, dass eine fast 3000 Jahre alte Denkwelt das Werden eines modernen Staates verhindert hat und dass Millionen von Individuen durch ein brutales wort- und waffengewaltiges System korrumpiert bzw. in ihrer Individualität und ihrem gesunden Empfinden überrollt und zerstört wurden. Und dass dies scheinbar unaufhaltsam weitergeht.

Ich habe meine Einstellung, die auch auf der Bergpredigt basiert, umfassend und wohl begründet dargestellt. Ich habe auch eine konträre Alternative zum Wort Jesu ausreichend skizziert. Jetzt wird es praktisch. Fast verzweifelt und fast uneinlösbar stehe ich nun vor der Losung und Lösung Jesu: „Liebe deine Feinde. Liebe auch die anderen, die anders denken, die anders ticken, die anders handeln, die, die, die …“ Ich spüre: Es ist so schwer, ein Christ, ein Mensch nach Mt 5,44-45 zu sein.

Ich muss vor dem täglichen Leid der Menschen kapitulieren. Ich habe keine Worte. Ich muss ganz klein werden. Ja, das muss ich. Was ich aber nicht darf, ist, vor traditionellen Mythen, Ideologien, Selbstermächtigungen bzw. göttlichen Absegnungen klein beigeben. Mich erleichternd muss ich wenigstens einen Aufsatz wie diesen schreiben und eine hochdotierte und über Jahrhunderte ausgebaute Mythologie am Schopf packen und in die Verantwortung nehmen – gemessen an einem klassischen Wort Jesu. Dass dabei die Geschichte Israels, die ja auch vielgestaltig als Basisgeschichte des Christentums gesehen wird, und dass so auch das Selbstverständnis des Christentums nicht unerheblich entzaubert werden, dass es so geschehen muss, das tut sehr weh.

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